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Orientierung
Freitag, 23. Dezember 2022
Migrationserfahrungen in der Bibel und heute

„Und niemand schreckt ihn auf“

Geh fort aus deinem Land“ – „Da ging Abram, wie der HERR ihm gesagt hatte“ (Gen 12,1.4). In der Bibel wird viel davon erzählt, dass Menschen aufbrechen und für immer in ein anderes Land ziehen. Es liegt nahe, dafür das moderne Wort „Migration“ zu verwenden: „eine auf Dauer angelegte räumliche Veränderung des Lebensmittelpunktes einer oder mehrerer Personen“ (Wikipedia am 26.09.2022). Und doch zögere ich: Ich sehe mehr Unterschiede als Gemeinsamkeiten.

Gemeinsamkeiten

Abram/Abraham ist eine Ausnahmegestalt. Angesichts seines Wohlstands (Gen 13,2) ist er kein typischer „Migrant“. Schauen wir auf das Volk Israel, wie es aus Ägypten auszieht: Es hat Schwierigkeiten, überhaupt wegzukommen, denn man will die Arbeitssklaven nicht ziehen lassen. Die Israelit:innen verlassen dennoch das Land, so erzählt es das Buch Exodus (Ex 11–15): fluchtartig, unter Verfolgung und mit Gottes Beistand. Sie haben ein Ziel: das „Gelobte Land“, das von Gott versprochene Land, in dem Milch und Honig fließen (Ex 3,8). Auf dem Weg dorthin gibt es viele Probleme. In Num 10 bricht das Volk mit Mose auf, um aus der Wüste Sinai in das Land zu ziehen. Wie vorher schon (Ex 16,3) muss das Volk Hunger leiden, es ist der Manna-Speise überdrüssig und will Fleisch (Num 11,4–35). Ständig kommt Streit auf (Num 12; Num 17). Gerüchte sagen, dass das Gelobte Land gar nicht so friedlich ist, es sei von starken Gegnern bewohnt, es sei ein Land, das seine Bewohner auffrisst (Num 13,32) – Angst macht sich breit. Das Volk leidet Durst und bekommt Wasser aus dem Felsen (Num 20,1–13). Feinde stellen sich in den Weg und zwingen zu langwierigen Umwegen (Num 20,14–21). Am Ende kommen die meisten gar nicht ans Ziel, erst die nachfolgende Generation erreicht tatsächlich das Gelobte Land (Num 26,65). Auch Mose, der große Anführer, bleibt auf der Strecke: Er stirbt außerhalb des Landes, nachdem er es hatte sehen dürfen (Dtn 34,1–9).

Zwischenbilanz

Die Bibel erzählt in der Tora eine gewaltige Wanderungsbewegung. Sie ist getrieben von Gottes Verheißung und von der Hoffnung auf eine bessere Zukunft an einem wunderbaren Ort. Ich sehe viele Parallelen zu heutigen Migrationsbewegungen: die überstürzte Flucht, Hunger und Durst auf dem Weg, Streit in der Gruppe, Angst und Sorge, vielfältige Gegner, der Zwang zu Umwegen – und dass viele den Weg nicht schaffen. Ich lerne aus der Bibel und aus meiner Beobachtung der Medienberichte: Migration ist kein erstrebenswerter Zustand. Bei aller Liebe zu pastoralen Weg-Metaphern in der Verkündigung („wir sind alle auf dem Weg“) – nein, Migration ist vielleicht unvermeidbar, aber nicht das Ziel, nicht als End- oder Dauerzustand von Gott gewollt.

Unterschiede

Da drängen sich mir die Unterschiede auf: Abram/Abraham und das Volk Israel stehen unter der Führung Gottes – doch wer führt die Migrant:innen aus Syrien oder Afrika? Das Ziel des Volkes Israel ist in der Bibel das „Gelobte Land“, also ein Land, das Gott ihnen gibt. Das passt überhaupt nicht zu unseren heutigen chaotischen Migrationsbewegungen. Die Bibel verspricht im Buch Jesaja die Rückkehr zum Zion, die Rückkehr in die Heimat in Form eines neuen Exodus (Jes 43,19; 49,10–11; 52,11–12). Ja, am Ende werden alle in die Diaspora Versprengten auf geraden Wegen wieder heimkehren und von ihren Verletzungen geheilt werden (Jes 35,1–10). Von alledem ist schon damals kaum etwas und heute erst recht nichts zu sehen. Menschen werden zu Flucht und Migration gezwungen: Kriege verwüsten ihre Heimat, der Klimawandel mit Überschwemmungen und Dürren macht es ihnen unmöglich, ihr eigenes Land zu bewohnen und zu bewirtschaften. In ihrer Verzweiflung fantasieren sie sich falsche Illusionen über ein wunderbares Zielland, in das sie sich aufmachen. Auf dem Weg stoßen sie auf korrupte Schleuser, seeuntüchtige Boote, bewaffnete Grenztruppen. Von einer Rückkehr oder Heimkehr kann keine Rede sein. Vielleicht haben sich manchmal die Menschen in der Bibel auch so verzweifelt gefühlt. Doch ich fürchte, dass das heutige Leid der Geflüchteten und die Grausamkeiten auf dem Weg um ein Vielfaches härter sind. Was bleibt uns hier, die wir dies wahrnehmen und in der Bibel lesen? Es bleibt vorerst Mt 25,35–36: „ich war hungrig und ihr habt mir zu essen gegeben; ich war durstig und ihr habt mir zu trinken gegeben; ich war fremd und ihr habt mich aufgenommen; ich war nackt und ihr habt mir Kleidung gegeben.“ Unsere Solidarität, unsere Hilfe für die Geflüchteten – das ist gefragt.

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Das biblische Bild des W einstocks verheißt den Flüchtlingen Wohlstand

Und was wäre das Ziel?

Doch geben wir uns als Bibellesende damit nicht zufrieden. Migration ist kein erstrebenswerter Zustand, den Geflüchteten muss geholfen werden, ja – und was will Gott wirklich? Die prophetischen Texte verkünden es uns: „Sie werden Häuser bauen und selbst darin wohnen, sie werden Weinberge pflanzen und selbst deren Früchte genießen. […] wie die Tage eines Baumes sind die Tage meines Volkes und das Werk ihrer Hände werden meine Auserwählten selber verbrauchen“ (Jes 65,21–22). Das Ziel ist das ruhige Leben vom Ertrag der eigenen Hände Arbeit, ein Leben an einem guten Ort. Im Buch Micha ist von einer großen Migration am Ende der Zeiten die Rede (Mi 4,1–5): Alle Völker werden zum Zion kommen und von Gott Recht und Gerechtigkeit lernen. Dann werden sie ihre Schwerter zu Pflugscharen umschmieden, nicht mehr das Schwert erheben und nicht mehr für den Krieg lernen. Aber das endgültige Ziel ist ein Leben in bescheidenem Wohlstand. Symbol dafür sind Weinstock und Feigenbaum (s. 1 Kön 5,5; 1 Makk 14,12). Ziel ist ein Leben ohne Migration und in Frieden: „Und ein jeder sitzt unter seinem Weinstock und unter seinem Feigenbaum und niemand schreckt ihn auf.“

Foto

Header-Bild: Drozdp (Wikimedia Commons)

Trauben: blende12 (Pixabay)