Die Magie des Verkleidens
Die kleine Mia läuft mit dem Gartenschlauch und einer roten Jacke durch das Haus und löscht den brennenden Kleiderschrank – natürlich nur in ihrer Fantasie. Wobei, was heisst nur? Das Verkleiden, das Spiel in anderen Rollen macht Kindern nicht nur Spaß, es ist auch wichtig für ihre Entwicklung.
Grundbedürfnisse des Menschen
Nicht nur für Kinder ist das Verkleiden, der Ausbruch aus dem Alltags-Ich eine schöne Erfahrung. An Fastnacht entsteht durch das gemeinschaftliche Verkleiden eine Verbundenheit, weil alle gemeinsam sich in dieser Weise verhalten und ein Fest feiern.
Ein weiterer Aspekt solcher Feste besteht darin, dass die Verkleideten das Narrenkäppchen aufhaben: Sie dürfen sich Dinge erlauben, Kritik üben, die in einer regulären Situation nicht möglich wären. So entsteht ein Ventil – das die gesellschaftliche Ordnung stabilisiert.
Zugleich kann man durch ein Kostüm in neue Rollen schlüpfen. Die müssen dabei nicht komisch sein. So tragen etwa in vielen Völkern die Schamanen zu bestimmten Festen bestimmte Kleidung und Bemalen sich ihre Gesichter, tanzen sich in Trance, um eine Brücke zu einer anderen Welt, für die Dauer des Rituals ein anderer zu werden.
Grenzen für Kinder unter drei Jahren
Also ist es eine super Idee, die Kinder schon früh zu verkleiden und mit auf den Umzug zu nehmen? Nicht unbedingt. Es kommt drauf an, wie alt das Kind ist. Der Kinderpsychologe Malte Mienert fordert etwa: „Karneval mit Verkleidungen hat in Einrichtungen mit Kindern bis zu drei Jahren nichts zu suchen.“
Das hängt mit den Grenzen des kindlichen Denkens in diesem Alter zusammen. Es könne noch nicht mit dem eines Erwachsenen verglichen werden. „Wir wissen, dass Kinder bis zum Alter von drei Jahren die Veränderungen durch das Verkleiden nicht nachvollziehen können – nicht einmal dann, wenn sie direkt vor ihren Augen passiert und es sich obendrein um eine vertraute Person handelt“, so Mienert. Durch die Verkleidung wird der andere zu einem Fremden. Ab dem vierten Lebensjahr ist die Denkentwicklung des Kindes dagegen weit genug fortgeschritten, dass Verkleidungen vom Kind reflektiert werden können.
Ein eigenes Kostüm empfinden Kinder unter drei Jahren zwar nicht als belastend – aber die damit einhergehende Veränderung ihrer Rolle ist ihnen nicht bewusst. Sie spiegeln dann eher die Freude der Erwachsenen wieder, die sich an dem Kostüm des Kindes erfreuen.
Kinder-Rollenspiele
Ab einem alten von drei oder vier Jahren können Kinder ein Rollenspiel wahrnehmen. Auch ohne Fastnacht nehmen Kinder ganz von alleine neue Rollen ein. Dafür brauchen sie auch gar kein Kostüm. Im Spiel mit Erwachsenen und anderen Kindern werden neue Rollen eingeübt, Wünsche und Vorbilder artikuliert, die Tochter wird zur Feuerwehrfrau und der Sohn zum Prinzen.
Indem sie sich verkleiden, schaffen sie sich eine eigene Welt und übernehmen Fähigkeiten und Eigenschaften der Rollen. So können sie Neues erleben und sich austesten. Auch das Einfühlungsvermögen der Kinder wird gestärkt, denn sie lernen, sich in eine andere Rolle hineinzuversetzen – und damit potenziell auch in andere Menschen.
Verkleiden ist zudem Nachahmung – und für Kinder ist das für lange Zeit die wichtigste Quelle des Lernens. Auch die Erwachsenen verkleiden sich ja: Zur Arbeit ziehen sie einen Anzug an, wenn sie in die Oper gehen, steigt Mama in ein elegantes Kleid. Entsprechend gibt es auch solche Alltagssituationen, in die sich Kinder gerne hineinversetzen.
Dabei können auch Gefühle, Wünsche und Ängste verarbeitet werden. Das Kind, dass sich schwach fühlt, stellt sich vor, ein kraftvoller Held zu sein, wer Angst vor Geistern hat, wirft sich vielleicht ein Laken über, um den Geistern selbst Angst einzujagen. Auch werden soziale Grenzen eingeübt – denn die kleine Hexe darf die „bösen Wörter“ sagen, die das Kind nicht sagen darf.
Feuerwehrfrau Mia löscht auch noch in der Fastenzeit
Zum Dürfen gehört es auch, dass die Kinder sich ihre Kostüme selbst aussuchen dürfen. Erwachsene sollten daher nicht versuchen, ihre eigenen Kindheitsträume auf die Kinder zu projizieren oder dem Kind das anzuziehen, worin sie es besonders süß finden.
Die Lust an der Verkleidung können die Erwachsenen auch außerhalb der Fastnachtszeit fördern, etwa mit einer Verkleidungskiste im Kinderzimmer. Da müssen dann nicht nur die alten Kostüme zu finden sein, sondern auch gerne ausrangierte Kleidung der Eltern.
Eltern sollten daher entsprechend, so möglich, als Spielpartner zur Verfügung stehen, auch wenn es ihnen schwerfällt, zum tausendsten Mal den Einkaufsladen zu besuchen. Mitunter hält die Rolle von Feuerwehrfrau Mia auch länger als über die Fastnacht und reicht weit in die Fastenzeit hinein. Auch das darf mal sein.