Die Macht des Erzählens
Gerade für viele ältere Menschen ist es ein wichtiges Ritual: Wenn ihre Kinder und Enkel sie besuchen, dann erzählen sie Geschichten aus ihrem Leben. Das ist mehr als ein Schwelgen in Erinnerungen. Die Geschichten, die Menschenerzählen, sind für sie existenziell.
Denn Geschichten prägen unser Leben, Geschichten ermöglichen unser Leben überhaupt erst. Der Mensch ist ein Homo narrans, ein erzählender Mensch. Samira Eil Ouassil und Friedemann Karig nennen ihn in ihrem gleichnamigen Buch sogar einen erzählenden Affen – denn das, was ihn zum Menschen mache, sei die Fähigkeit, Geschichten zu erzählen. Diese sind ein evolutionärer Vorteil, der den Menschen aus dem Tierreich hervorhebt.
Während Tiere ihren Artgenossen Signale geben können, etwa um vor einer drohenden Gefahr zu warnen, kann nur der Mensch vergangene Ereignisse teilen und nur er kann Zukünftiges vorwegnehmen. In Erzählungen gibt der Mensch Erfahrungswissen weiter, das für andere nutzbar wird. Erzählt der Jäger beim prasselnden Lagerfeuer am Abend davon, wie er den Löwen entkommen konnte, so stellt er damit den anderen Mitgliedern seiner Gruppe Wissen zur Verfügung, dass diese selbst anwenden können.
Der Held des Stammes
Damit die Geschichten hängen bleiben, berichtet er sein Entkommen somit reißend und packend, dass sie immer wieder über Jahre weitererzählt, später dann ausgeschmückt und mit anderen Geschichten angereichert werden. So entsteht der Geschichtenkreis über den Helden des Stammes, der den Löwen entkommen ist, indem er in einen See sprang und dabei eine Herde Mammuts entdeckte, zu denen er später seine Gruppe führen konnte, die dann eine erfolgreiche Jagdveranstaltete, indem sie die Mammuts über eine Klippe trieben.
Ein solcher Geschichtenkreis braucht dann auch keine „Moral von der Geschicht“ eigens hervorzuheben. Geschichten üben eine hintergründige Macht auf die Menschen aus, gerade deswegen, weil unser Gehirn selbst in Geschichten denkt.
Wie der Fisch sich nicht ohne das Wasser vorstellen kann, so kann das Gehirn nicht nicht Geschichten denken; „Nahezu alles, was wir heute das Ich nennen, stellt sich uns selbst und den anderen als Summe mehr oder weniger stimmiger Erzählungen dar“, so Ouassil und Karig.
Unser Gehirn liebt Geschichten, da hierdurch unübersichtliche Folgen von Ereignissen, die mehr oder weniger zusammenhängen, miteinander in Verbindung gebracht und einsichtsvoll strukturiert werden können; fehlt eine solche Konsistenz, wird der Mensch nervös.
Dabei sind „Märchen mehr als nur wahr: Nicht deshalb, weil sie uns sagen, dass es Drachen gibt, sondern weil sie uns sagen, dass man Drachen besiegen kann“, so Neil Gaiman in seinem Roman Coraline. Einer Geschichte wohnt also eine innere Kraft inne, die in den Menschen etwas auslöst.
Heilende Geschichten
Diese Erkenntnis ist keineswegs belanglos: Wenn unsere Identität aus einem Netzwerk von Geschichten besteht, dann ist es eine entscheidende Frage, welche Geschichten erzählt werden.
Das bewusste Erzählen von Geschichten ist ein wichtiger Ansatz, Herausforderungen zu bewältigen oder sogar mit Traumata umzugehen. Für Trauma-Geschichten beschreibt etwa Martin Seligman, wie man Geschichten erzählt, die zeigen, welche Ressourcen man zum Umgang mit dem Trauma entwickelt hat.
Heilende und stärkende Geschichten können regelmäßig wiederholt werden, um ihre Wirkung zu erhöhen. Nicht umsonst werden im Gottesdienst und in der Liturgie alle drei Jahre, teilweise sogar häufiger, dieselben Texte vorgelesen.
Gerade für Menschen, die ein langes Leben hinter sich haben, sind die Erzählungen, die sie über sich selbst hören und sprechen, wegweisend für ihr Wohlbefinden und ihr inneres Erleben. Denn sie können ja nicht nur auf fremde, sondern auch viele eigene Geschichten zurückgreifen.
Erzählen Sie Ihre Geschichte
Welche Geschichten Sie über sich und Ihr Leben erzählen spielt eine Rolle für Ihr Selbstbild und Ihr Wohlbefinden. Entsprechend dürfen sie ausgewählt werden. Von diesem Gedanken her entfalten sich Ideen einer sinnstiftenden Erzählkunst:
Wiederholt man häufig die gleichen Geschichten, so ist das ein Zeichen, wie wichtig diese für einen sind. Das war schon in früheren Zeiten so: Jene Geschichten, die besonders wichtig oder prägend waren, wurden regelmäßig wiederholt – und wurden am Ende aufgeschrieben. So entstanden wohl auch die Odyssee und die Ilias, die ältesten Zeugnisse abendländischen Schrifttums.
Haben Sie schon einmal daran gedacht, Ihre eigene Odyssee aufzuschreiben? Welche Geschichten erzählen Sie immer wieder? Welche sind besonders lebensprägend für Sie und von welchen möchten Sie, dass Ihre Kinder und Enkel sie in Erinnerung behalten?
Wenn Geschichten unser Leben prägen, dann drücken Geschichten auch geprägtes Leben aus. Nutzen Sie daher die Chance und schreiben Sie Ihre wichtigsten Geschichten auf oder diktieren Sie diese. Dabei hören und lesen Sie die Erzählungen Ihres Lebens nicht nur noch einmal neu; indem sich das Medium ändert, lernen nochmal etwas über sich; und sie schaffen auch einen bleibenden Schatz von Erzählungen für Ihre Freunde und Nachkommen.