
Der Mensch im Mittelpunkt
Wer kennt es nicht: Man verlässt sich auf jemanden und wird enttäuscht. Dabei ist Zuverlässigkeit ein Grundpfeiler sozialen Zusammenlebens. Schon die alten Griechen erkannten die Bedeutung eines zuverlässigen Freundes. So heißt es bei Platon: „Wertvoller als alle Güter ist ein zuverlässiger und tugendhafter Freund“. Auch in der Bibel wird Zuverlässigkeit als hoher Wert hervorgehoben. Aber wie können wir Zuverlässigkeit im Alltag leben und fördern?
Denkt nicht, ich sei gekommen, um das Gesetz und die Propheten aufzuheben! Ich bin nicht gekommen, um aufzuheben, sondern um zu erfüllen.
Zuverlässigkeit als Grundpfeiler des Zusammenlebens
Um ein Mindestmaß an Zuverlässigkeit in einem sozialen Gefüge zu gewährleisten, braucht es Regeln. Sie dienen dazu, Konflikte zu vermeiden und friedliches Miteinander zu ermöglichen. Doch wahre Zuverlässigkeit entsteht nicht nur durch äußere Vorschriften, sondern auch durch innere Überzeugung und ein Gespür für die Bedürfnisse der Mitmenschen.
Auch Religionen sind soziale Gefüge und kennen Regeln und Vorschriften. Nehmen wir als Beispiel das Judentum. Zur Zeit Jesu hatte es hoch entwickelte Institutionen. Die Interpretation der hl. Schrift und der Tradition war Sache von Gelehrten. Und, wie sollte es anders sein, natürlich trafen da unterschiedliche Lehrmeinungen aufeinander. Viele Begegnungen, die das Neue Testament zwischen Jesus und Vertretern des etablierten Judentums schildern, waren von Auseinandersetzungen geprägt. Daraus zu schließen, Jesus sei ein Gegner der jüdischen Tradition und der hergebrachten Ordnung oder gar des Gottesdienstes gewesen, wäre ein Fehlschluss. Er selbst macht deutlich: „Denkt nicht, ich sei gekommen, um das Gesetz und die Propheten aufzuheben! Ich bin nicht gekommen, um aufzuheben, sondern um zu erfüllen“ (Mt 5,17). Jesus stand fest in der Tradition seines Volkes. Allerdings stellte er den komplizierten Systemen gerne eine sehr praktische Sicht der Dinge entgegen – etwa wenn es um das Sabbatgebot oder Speisegesetze ging.
Gegen das Leistungsdenken
Kennzeichnend für die ethischen Weisungen Jesu wie für die ganze Ethik der Bibel ist, dass es nicht um Leistungsdenken geht. Ethisches Handeln ist die freie Antwort des Menschen auf das Geschenk der Liebe Gottes. Wer diese Liebe empfangen hat, kann und will anders handeln. Die Ethik Jesu ist deshalb so radikal, weil die geschenkte Liebe Gottes so radikal ist.
Die Ethik Jesu rückt den Menschen in den Mittelpunkt. Das Miteinander und die Beziehung zu Gott soll gefördert und geheilt werden. Deshalb entschärft er manche Gebote, wie etwa kultische Regelungen, Reinheits- oder Speisevorschriften und Sabbatgebote. Gebote, die die Beziehung zu Gott, den Mitmenschen und sich selbst betreffen, werden verschärft.
Die Bergpredigt
Die Bergpredigt ist überschrieben mit „die Rede von der wahren Gerechtigkeit“. Der Text aus dem Matthäusevangelium (5,1–7,29) beinhaltet zentrale Worte Jesu. Dort finden sich die Seligpreisungen, das Vaterunser, das Gebot der Feindesliebe und die Goldene Regel. Der Evangelist Lukas nennt den Text „Feldrede“ (Lk 6,20–49).
Ethische Radikalisierungen in der Bergpredigt
In der Bergpredigt (Mt 5–7) finden sich sechs Radikalisierungen. Sie beziehen sich auf das menschliche Miteinander und sollen ein besseres Leben für alle ermöglichen. Das Tötungsverbot des Judentums wird auf Zorn und Unversöhntheit ausgeweitet, weil in ihnen der Grund für das lebengefährdende Handeln liegt.
Die zweite Radikalisierung bezieht sich auf den Ehebruch. Jesus geht es nicht nur um den Vollzug, sondern bereits um die Vorstufe der Sünde, die Beziehungen zerstört. Der Schutz von Frauen vor Ehescheidung ist zentral für die dritte Radikalisierung.
Die Eindeutigkeit der Rede ist die vierte Radikalisierung. Authentizität ist ein bedeutsamer Wert der Ethik Jesu. Er erteilt jedem Schwur eine eindeutige Absage. Dahinter steht die Auffassung, dass beim Schwören der Name Gottes entweiht werden könnte. Hinzu kommt die Überzeugung, dass die nahe Gottesherrschaft vom Menschen Wahrhaftigkeit und Zuverlässigkeit einfordert.
Die fünfte Radikalisierung betrifft die Vergeltung. Schon die alttestamentliche Bestimmung „Auge für Auge“ (Ex 21,24) sollte hemmungsloser Rachsucht eine Grenze setzen. Jesus geht es bei der Verschärfung um etwas anderes: Im persönlichen Umgang mit den Mitmenschen soll der Gläubige nicht darauf fixiert sein, dass ihm Gerechtigkeit widerfährt, sondern dass Menschen durch sein Verhalten begreifen, dass Gott im Kommen ist. Das Reich Gottes ist so unfassbar groß, dass das den Streit vergessen lassen soll und sogar Liebe zum Feind ermöglicht, wie die sechste Radikalisierung fordert.
Einladung zum Leben in Verantwortung
Sicher hat Jesus nicht gemeint, dass ein Staat darauf verzichten solle, im Interesse des Gemeinwohls Regeln aufzustellen oder Straftäter zu verfolgen. Es geht ihm nicht um Reform staatlicher Gesetze, sondern um das Handeln der Glaubenden.
Indem Jesus diese Gebote radikalisiert, zeigt er sich als Lehrer, der die Menschen gut beobachtet hat. Seine ethischen Weisungen bleiben daher nicht an der Oberfläche des „Du sollst“. Sie sind nicht nur Gesetze und Regeln, die ich einhalten muss, weil Zuverlässigkeit zum Funktionieren des Gemeinwesens erforderlich ist. Jesus erlässt keine Gesetze im herkömmlichen Sinne. Er lädt zu einem Leben in Verantwortung ein. Es geht nicht um Regeln. Es geht um wesentlich mehr, um die freie Antwort des Menschen auf die Liebe Gottes.