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Orientierung
Freitag, 3. März 2023

Der lange Weg zum Perspektivwechsel

Das Thema Armut ist im Christentum von großer Bedeutung. Päpste und Bischöfe haben zahlreiche Dokumente dazu verfasst, große Hilfswerke und kleine Initiativgruppen nehmen sich der Armen an, in Predigten und bei Spendenaufrufen werden die Gläubigen immer wieder auf das Thema hingewiesen. Auch in der Bibel ist oft davon die Rede.

Armut in der Bibel

Obwohl in den frühen Gesellschaften des Nahen Ostens meistens die Großfamilie Armut abfederte und milderte, gab es bereits Unterschichten und Randgruppen, denen es an finanziellen Mitteln mangelte und die so in Not waren. Armut ist zu allen Zeiten ein Begleiter der Menschheit. Schon im Alten Testament wird sie als Problem angeprangert und die Menschen werden zum Handeln aufgefordert:

„Wenn bei dir ein Armer lebt,irgend einer deiner Brüder in irgendeinem deiner Stadtbereiche in dem Land, das der HERR,dein Gott, dir gibt, dann sollst du nicht hartherzig sein und sollst deinem armen Bruder deine Hand nicht verschließen“ (Dtn 15,7).

Besondern die Propheten ergreifen immer wieder Partei für die Armen. Dahinter steht die Überzeugung, dass Gott jedem Menschen ausreichend Anteil an den Gütern der Erde geben will.

Nachdem das Volk Israel im babylonischen Exil selber Armut und Unterdrückung erlebt hat, wird der Begriff Armut immer mehr zu einem religiösen Begriff, etwa im Sinn von „demütig“ oder„fromm“. Für den Propheten Jesaja sind die „Armen“ das Volk Israel, das nur bei Gott Schutz findet. So etwa in Jes49,13:„Jubelt, ihr Himmel, jauchze, o Erde, freut euch, ihr Berge! Denn der HERR hat sein Volk getröstet und erbarmt sich seiner Armen.“ oder Jes14,32:„Der HERR hat Zion gegründet, in ihr finden die Armen seines Volkes Zuflucht.“

Im Neuen Testament vertiefen die Menschwerdung Jesu unter einfachsten Umständen, sein einfacher Lebensstil und seine Selbsthingabe am Kreuz die religiöse Dimension der Armut als Weg zu Gott. Auch die öffentliche Rede Jesu und seine Wunder lassen keinen Zweifel daran, dass er den Armen, Schwachen, Ausgestoßenen und Kranken mit Liebe und Güte begegnet und dass ihnen die Liebe des Vaters gilt. In den Seligpreisungen schließlich verspricht er den Notleidenden wahre Sättigung, das Reich Gottes.

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Die vorrangige Option für die Armen bedeutet immer auch, die Perspektive der Menschen einzunehmen, die am Rande der Gesellschaft leben

Die vorrangige Option für die Armen

In der klassischen Soziallehre der Kirche orientierte man sich an der Solidarität, ohne dabei den Armen einen Vorrang zu geben. Das änderte sich mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil. Es macht deutlich, dass der Mensch, als Ebenbild Gottes, immer Urheber, Mittelpunkt und Ziel des wirtschaftlichen Lebens und der Kultur sein muss.

Die Texte des Konzils, die sich mit sozialen Themen befassten, fanden besonders in Lateinamerika große Beachtung. Geprägt durch reale Erfahrungen der Ausbeutung und der Unterdrückung in ihren Ländern veränderte sich die christliche Praxis: Christliche Gemeinden erkannten ihren Auftrag, für die Verbesserung der Lebensumstände einzustehen, Bischöfe und Theologen des Kontinents diskutierten die Thematik.

Bei der dritten Generalversammlung der lateinamerikanischen Bischöfe in Puebla im Jahr 1979 sprechen sie im Abschlussdokument erstmals über die „vorrangige Option für die Armen“. Auch die römische Kurie nahm sich des Themas an. In der 1986 veröffentlichen Instruktion Libertatis conscientia der Glaubenskongregation heißt es schließlich:„Indem die Kirche die Armen liebt, bezeugt sie schließlich die Würde des Menschen; sie erklärt offen, dass er mehr wert ist durch das, was er ist, als durch das, was er hat“.

In dem Schreiben wird deutlich darauf hingewiesen, dass die Option für die Armen nicht bedeutet, dass die Kirche sich nur um einen Teil der Menschen sorge oder gar den anderen Teil der Menschheit ausschließen wolle.

Ein bedeutender Perspektivwechsel

Mit der Option für die Armen geht ein Perspektivwechsel einher. Es geht dabei um viel mehr als nur konkrete Hilfsleistungen oder eine paternalistisch geprägte Mildtätigkeit. Die Kirche und jeder einzelne Getaufte soll nicht nur den Armen wahrnehmen, sondern die Welt von seiner Warte aus betrachten. Das ermöglicht eine neue Sicht der Dinge und regt zu einem veränderten Handeln an.

In ihrem Schreiben „Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit“ betonen die Deutsche Bischofskonferenz und der Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland im Jahr 1997:„In der vorrangigen Option für die Armen als Leitmotiv gesellschaftlichen Handelns konkretisiert sich die Einheit von Gottes-und Nächstenliebe“. Deshalb müssten sich alle Handlungen und Entscheidungen in Gesellschaft, Politik und Wirtschaft an den Fragen messen lassen, inwiefern sie die Armen betreffen und diese zum eigenverantwortlichen Handeln befähigen. Dabei ziele die Option für die Armen immer darauf ab, „Ausgrenzungen zu überwinden und alle am gesellschaftlichen Leben zu beteiligen“.

Damit das gelingt, muss die Perspektive der Menschen eingenommen werden, die in den Wohlstandsgesellschaften der Industrieländer am Rande leben oder in Entwicklungsländern um das Existenzminimum ringen; Menschen, die nicht für sich eintreten können oder keine Lobby haben, die ihre Interessen vertritt. Dieser Perspektivwechsel muss sich in konkreten Handlungen auswirken. Oder wie Papst Franziskus es in seiner Botschaft zum Welttag der Armen am 13. November 2022 gesagt hat:„Angesichts der Armen nützen keine großen Worte, sondern man krempelt die Ärmel hoch und setzt den Glauben durch das persönliche Engagement in die Praxis um.“

Fotos

Header-Foto: Ch. Heinemann

Foto Mitte: Mircea (Pixabay)