
Inklusion endet nicht mit einer Rollstuhlrampe
In Gottesdienst in einer Kleinstadtgemeinde in Südhessen: Etwa 40 Leute sind gekommen, überwiegend ältere Menschen, dazu drei Familien. Der Priester predigt gerade über das Evangelium vom blinden Bartimäus. Ein kurzes Knackgeräusch ertönt über die Lautsprecher. Ein Junge beginnt zu weinen und zu schreien, hält sich die Ohren zu. Die Mutter braucht Zeit, um das Kind zu beruhigen.
Unterdessen blicken mehrere Gemeindemitglieder missbilligend zu der kleinen Familie. Ihre Blicke sind eindeutig: Kann der Junge nicht ruhig sein, man versteht gar nichts mehr durch den Krach. Die Eltern spüren die Ablehnung. Dabei kann der Junge nichts dafür. Er hat eine geistige Behinderung. Diese Familie wird es sich am nächsten Sonntag gut überlegen, ob sie nochmal in den Gottesdienst kommt.

Seelsorge für Menschen mit Behinderung
Angela Ruhr kennt solche Geschichten. Sie ist die Leiterin des Referats Seelsorge für Menschen mit Behinderung im Bistum Mainz.
Sie versteht beide Seiten: Das Kind passt mit seiner Reaktion nicht in die Messe. Aber das Kind soll mit seinen Eltern in einen Gottesdienst gehen können, in dem es sich so verhalten darf, wie es ist.
Daher hält Ruhrs Referat regelmäßig „Gottesdienste für alle“ ab.
„Von unserer Seite ist er für alle. Und in manchen Veranstaltungen kommen auch viele Mitglieder der Pfarrgemeinde; in anderen kommen fast nur Menschen mit Behinderung.“
Der Gottesdienst ist möglichst barrierefrei gestaltet: Die Texte werden in einfacher Sprache vorgetragen. Das heißt: Lange Sätze und Fremdwörter werden weggelassen, Inhalte werden kondensiert. Die Predigten fallen kürzer aus. Und niemand stört sich daran, wenn ein Kind oder auch ein Erwachsener weint oder schreit.
Gottesdienst für alle meint: Jeder wird so akzeptiert, wie er ist.
Natürlich kann man sagen, jeder muss Inklusion leben.
Aber das kann man nicht erzwingen
Ein exklusives Angebot?
So ein Format kann man auch kritisch sehen. „Wenn ich einen Gottesdienst abhalte, dessen vorrangige Zielgruppe Menschen mit geistiger Behinderung sind, dann ist das ein exklusives Angebot – weil Sonderräume für sie geschaffen werden“, so Ruhr.
Natürlich könne man Inklusion sehr umfassend denken. Das hieße dann: Teilhabe muss für alle vollumfänglich möglich sein. Das überfordere aber viele Pfarrgemeinden.
Kleine Schritte zur Teilhabe
Um mit der Spannung von Inklusion und Exklusion umzugehen, geht Ruhr von der Frage aus, die Jesus an Bartimäus stellt: Was soll ich dir tun?
Das kann dann, abhängig von der Situation vor Ort, zu vielen konkreten – auch kleinen – Schritten führen:
- Die Kirche kann barrierefrei gestaltet werden.
- Es gibt Liederbücher mit hinreichend großer Schrift für Menschen mit Sehbehinderung.
- Die Texte des Evangeliums liegen in Leichter Sprache vor.
Überforderung vermeiden – Lösungen finden
Die Gemeinden werden laut Ruhr zunehmend sensibler für das Thema. Dennoch kommt es mitunter zu Überforderung. Manche Gemeindereferentin sei verzweifelt, weil eines der Kinder im Rollstuhl sitze und daher nicht, wie sonst üblich, mit den anderen auf den Stufen des Altars die Erstkommunion empfangen kann, so Ruhr.
Daraus macht sie auch niemandem einen Vorwurf. Dann muss man schauen: Was ist möglich, was sind die Bedürfnisse des Kindes und die der Gemeindereferentin?
Sensibilität wächst
In manchen Feldern sei die Kirche gut aufgestellt, so Ruhr:
„Ich sehe eine große Sensibilität für demente Menschen in der Kirche. Ich nehme auch Sensibilität für das Thema Besuchsdienste in Altenheimen wahr.“ Auch Angebote für taube Menschen seien mittlerweile gut etabliert.
Es geht darum, Entscheidungen zu ermöglichen.“
Sonntags in die Kirche kommen – für eine Wohngruppe schon eine Herausforderung
Von der Kirche wird Offenheit für die Menschen mit Behinderung erwartet. Denn sie haben ein Recht darauf, ihre Religion frei auszuüben. Das bedeutet aber auch, dass dies von den Einrichtungen, in denen sie leben, möglich gemacht wird.
Dafür muss etwa der Bewohner der Behindertenwohngruppe die Möglichkeit haben, sich zu entscheiden. Wenn aber einer der Bewohner am Sonntag zum Gottesdienst will, allein dort aber nicht hinkommt, dann kann das bei knappen Personalressourcen eine organisatorische Herausforderung werden.
Die Abwägung der Interessen ist dann schwierig.
Jeder ist wertvoll
Für Ruhr ist die Arbeit mit Menschen mit Behinderung daher auch eine Frage der Haltung:
Jeder hat die Fähigkeiten, die er oder sie mitbringt – damit ist er wertvoll und damit darf er so sein.
Ihr Referat ist für alle Menschen da, nicht nur für die mit katholischem Taufschein.
„Wir haben auch Familien, die sind aus der Kirche ausgetreten, die kommen aber zu unseren Angeboten, weil sie die gut finden.“ Das sieht Ruhr positiv:
„In der kategorialen Seelsorge holen wir Menschen nochmal anders ab, als es eine Pfarrgemeinde kann,
treffen sie in ihrer Lebensrealität und unterstützen sie.“
Für Ruhr ist das die Kernbotschaft ihrer Arbeit:
Jeder ist wertvoll.