Bedrohte Politiker
Wenn die Menschen an Politiker denken, dann denken sie in der Regel an den Bundeskanzler, an Minister, den Oppositionsführer … also Akteure, die viel im Fernsehen sind. Die wenigsten denken an ihren Nachbarn die Straße runter. Dabei kann der auch ein Politiker sein, nur sitzt er nicht im Bundestag, sondern im Stadtparlament. So wie die meisten in Deutschland, die politisch aktiv sind.
Die Demokratie ist in der Bundesrepublik auf allen Ebenen verankert: vom Dorfzentrum bis ins Schloss Bellevue. Und das heißt auch: Auf allen Ebenen wird gewählt, auf allen Ebenen braucht es Menschen, die Wahlkampf machen und sich zur Wahl stellen. Das größte ehrenamtliche Engagement liegt auf der Kommunalebene. Denn je höher man in der Hierarchie steigt, umso mehr Berufspolitiker tummeln sich dort. Berufspolitiker, das sind Menschen, die für und von der Politik leben. Die darauf angewiesen sind, gewählt zu werden, weil sie ihren Lebensunterhalt damit verdienen. Und die damit quasi prekär beschäftigt sind. Denn alle vier bis fünf Jahre steht ihr Mandat zur Wahl.
Den kenn ich
Die Parlamentarier in den Kommunen hingegen erhalten nur ein Sitzungsgeld, das in den meisten Fällen nicht mal eine Aufwandsentschädigung ist im Verhältnis zur Zeit, die sie investieren. Denn Politik bedeutet in den Kommunen nicht nur, einmal im Monat im Stadtparlament zu sitzen; sondern auch vor Ort präsent zu sein, bei Vereinen, Stiftungen, bei Festen und an Wahlkampfständen. Viele Spitzenpolitiker begannen damit, dass sie bei jedem Grillen des örtlichen Kleingartenvereins präsent waren. Gemäß dem Grundsatz: Den kenn ich, den wähl ich.
Viel Kontakt bedeutet aber auch: viel Gelegenheit für Kritik. Ein Stadtverordnetenvorsteher einer hessischen Kleinstadt berichtete einmal, er freue sich, wenn er beim Brötchenholen am Samstag mal nicht auf Probleme in der Stadt angesprochen werde. Oder ein Bürgermeister, der erzählte, am Sonntagmorgen habe ein Bürger bei ihm zu Hause geklingelt, weil er sich mal über die Müllabfuhr beschweren wollte; Sonntagmorgen sei halt eine gute Zeit, den Bürgermeister zu Hause anzutreffen, fand der Beschwerdeführer. Dabei sind das noch die angenehmen Störungen.
Beleidigungen und Bedrohungen: Alltag!
Eine Studie der Heinrich-Böll-Stiftung stellt etwa fest: „Bedrohungserfahrungen sind nahezu überall in Deutschland in den deutschen Großstädten Teil des politischen Alltags. Deutlich mehr als die Hälfte aller Personen, die in den deutschen Großstädten oder in den Bezirken der Stadtstaaten ein kommunales Wahlamt oder -mandat ausüben, erfahren im Rahmen dieser Tätigkeiten Beleidigungen, Bedrohungen und/oder tätliche Übergriffe.“
So geben rund 40 Prozent der Mandatsträger in dieser Studie an, in brieflicher Form bedroht worden zu sein, etwas mehr via Social Media. Noch erschreckender: 48,8 Prozent der Männer und 45,6 Prozent der Frauen mit einem lokalpolitischen Mandat berichten von Bedrohungen oder Beleidigungen bei direkten Begegnungen. Zu Sachbeschädigung und sogar zu tätlichen Angriffen kam es in ca. 10 Prozent der Fälle.
Entsprechend wird es auch schwierig, Menschen für den politischen Dienst vor Ort zu begeistern. Zwar zeigen die Aktiven eine gewisse Resilienz gegen solche Erfahrungen; die wenigsten denken daran, aufzuhören. Doch zugleich, vermutet die Studie, haben viele Engagierte schon resigniert und potenzielle Mandatsträger werden abgeschreckt.
Essenz der Demokratie
Das hat schon Folgen: Ein Parlamentarier in Osthessen erzählte auf einer Parteiversammlung, man denke mittlerweile vor Ort daran, das Stadtparlament zu verkleinern – parteiübergreifend. Denn man habe nicht mehr genug Leute, die sich zur Wahl aufstellen lassen würden. Die offiziellen Zahlen sähen noch ganz gut aus, weil die Listen immer voll seien; aber da schreibe man quasi alle Parteimitglieder drauf. Aber nur die auf den ersten Plätzen wollten wirklich ins Parlament – und sei die Partei zu erfolgreich bei der Wahl, dann würde es kompliziert.
Dabei wurde die Demokratie, in Griechenland entstanden, als Staatsform für die Polis entwickelt, die Gemeinschaft der Bürger einer Stadt, die sich unmittelbar begegnen konnten. So wird das Wesen von Demokratie bis heute in den Kommunen am authentischsten gelebt: Nirgendwo ist der Kontakt von Politiker und Bürger so eng und unmittelbar; nirgendwo geht es mehr um Themen, weniger um Karrieren.
So lässt sich die Verrohung des demokratischen Diskurses dort auch am besten ablesen; und dort sind die Menschen diesem Prozess am unmittelbarsten ausgesetzt. Denn die allermeisten können nichts für die häufigsten Probleme, wegen denen sie angefeindet werden. Es liegt nicht in ihrer Macht, etwas zu ändern. Umso wichtiger ist es, dass alle Bürger zu ihren Mandatsträgern in der Kommune halten, auch wenn die nicht zur bevorzugten Partei gehören. Denn Kommunalpolitik ist keine Blase, sondern der Versuch, gemeinsam das direkte Lebensumfeld zu gestalten. Sie ist das Lebenselixier der Demokratie.
Foto: Patricia Grähling, Stadt Marburg