Wildnis vor der Haustür
Gibt es bei uns noch so etwas wie Wildnis? Sind das Gänseblümchen im Rasen und der Gartenrotschwanz im Hof Relikte einer Zeit, in der es, unbeeinflusst vom Menschen, noch eine ursprüngliche Vielfalt von Pflanzen und Tieren gab?
Unter Wildnis stellt sich mancher eine Art von paradiesischem Urzustand vor, in dem die Natur sich noch ungestört und nur ihren eigenen Gesetzmäßigkeiten folgend entwickeln konnte. Daran ist richtig, dass die Lebewesen vor dem Erscheinen des Menschen nur den natürlichen Einflussfaktoren wie Klima, Boden, Vulkanismus, Atmosphäre etc. und den Wechselwirkungen mit anderen Lebewesen wie Räuber-Beute-Beziehungen, Nahrungsketten, Konkurrenz usw. unterworfen waren.
Einen quasi ursprünglichen Zustand hat es aber nie gegeben, da es schon immer zu Änderungen der Lebensumstände wie z. B. des Klimas oder der Atmosphäre gekommen ist. An diese Änderungen mussten sich die Organismen mit neuen Entwicklungen anpassen. Außerdem befindet sich der Mensch selbst nicht außerhalb der Biosphäre und ihren Kreisläufen, ist also gewissermaßen selbst „wild“.
Heute, in der Zeit des menschengemachten Klimawandels, gibt es zudem eine echte Unberührtheit der Natur vom Menschen selbst in den entlegensten und unbesiedelten Bereichen wie etwa der Arktis nicht mehr, da sich diese Regionen heute durch die Erderwärmung schnell und erheblich verändern. Wild im Sinne von ungeplant und ungesteuert entwickeln sie sich dennoch.
Zweckmäßiger ist es also, mit dem Begriff Wildnis in einem weiteren Sinn all das an Natur zu bezeichnen, was sich einfindet oder bleibt, wenn der Mensch auf Steuerung, Gestaltung und Nutzung der Natur verzichtet. Das kann auch vor der Haustür sein.
Von der Steinzeit bis heute
Seit einigen Jahrtausenden und mit immer noch zunehmender Tendenz ist der Mensch für die Natur zum entscheidenden Einflussfaktor geworden. Er hat dem gesamten Planeten seinen Stempel aufgedrückt, ihn vielfachen Nutzungen unterworfen, ihn ziemlich rücksichtslos umgestaltet, bebaut, ausgebeutet, vergiftet, überfischt, entwaldet, erhitzt, etc. Damit hat er eine Wirkungsmacht entfaltet, deren Zerstörungskraft nur mit globalen Katastrophen wie Kometeneinschlägen oder großen Vulkanausbrüchen zu vergleichen ist.
Bei uns in Mitteleuropa wird der Wildnis seit der Steinzeit zu Leibe gerückt, zunächst durch die Jagd und die frühe Landwirtschaft. Damit hat der Mensch bis zum Ende des Mittelalters den ursprünglichen Wald in landwirtschaftlich gut nutzbaren Gebieten weitgehend gerodet und die großen Pflanzenfresser wie Auerochse, Wisent, Wildpferd ebenso wie deren Fressfeinde Wolf und Bär teilweise völlig ausgerottet.
Neben solchen Verlusten entstanden aber durch den Ackerbau und vielfältige andere neue Landnutzungsformen Lebensräume, die es vorher nicht gegeben hatte. Viele aus den Steppen des Ostens stammende Tierarten wanderten in die neu entstandene Feldflur ein, etwa der Feldhamster, die Lerchen, Feldhühner und Weihen; viele Pflanzenarten aus dem Mittelmeergebiet und dem Nahen Osten fanden ihren Weg mit dem Ackerbau zu uns, z. B. die Kornblume und viele andere Ackerwildkräuter.
Wirtschaftsweisen wie Wanderschäferei, Almwirtschaft, Obst- und Weinanbau, Niederwaldnutzung, Mahd von Wiesen zur Gewinnung von Heu und Einstreu, Anlage von Fischteichen, Weideviehhaltung etc. schufen Lebensräume für neue Artengemeinschaften und ließen die Artenvielfalt insgesamt steigen.
Auch andere menschliche Aktivitäten wie Städte- und Wegebau, Abgrabungen, Abfallablagerungen usw. schufen neue Strukturen und Bedingungen und damit potentielle Biotope, die es im Urwald nicht gegeben hatte.
Mit dem Welthandel kamen und kommen bis heute, gewollt oder nicht, immer neue Arten aus der ganzen Welt (mit ähnlichem Klima) zu uns und werden zu Bestandteilen unserer Natur. Solche Neueinwanderer, Neophyten oder Neozoen genannt, breiten sich etwa in den Städten oder entlang von Gewässern und Verkehrswegen aus.
Sie bilden heute in ihrer neuen Heimat oft größere Populationen aus als in ihrer Herkunftsregion. So findet sich an Gewässern heute oft massenhaft das aus Asien stammende Drüsige Springkraut, in Städten wuchert (übrigens auf der ganzen Welt in den warmgemäßigten Zonen) in Hinterhöfen und auf Brachflächen der aus China stammende Götterbaum, in feuchten Bachtälern der Japanische Knöterich etc.
Die vom Menschen vorangetriebene Globalisierung hat also auch die Natur erfasst und uns viele Arten beschert, deren ursprüngliche Heimat zum Teil viele tausend Kilometer entfernt ist. Ebenso wurden übrigens auch viele Arten von uns aus in die Welt verschleppt und breiten sich anderswo aus.
Wirtschaft und Natur in der Moderne
Die vom Menschen erzeugte Vielfalt kam mit der Industrialisierung und erst recht nach dem Zweiten Weltkrieg ernsthaft in Gefahr: Alte Wirtschaftsweisen wurden unrentabel, die Siedlungsflächen explodierten mit der Bevölkerungszahl, Straßen und Autobahnen zerschnitten Lebensräume und trennten Populationen, Moore wurden abgetorft, Flüsse begradigt, Sumpfgebiete entwässert, Wälder in Holzplantagen verwandelt.
Agrarlandschaften wurden durch Flurbereinigungen und Flächenzusammenlegungen begradigt und vieler Strukturen wie Hecken, Gräben, Mauern etc. beraubt, um große, maschinell bearbeitbare Flächen zu schaffen. Diese werden als Monokulturen bewirtschaftet, künstlich gedüngt und chemisch unkrautfrei gehalten und sind darum extrem artenarm. Keine Wildpflanze kann gedeihen, kein Insekt findet mehr Blüten oder Nahrungspflanzen für seine Larven.
Noch in den 70er-Jahren gab es Prämien für jeden beseitigten Meter Feldhecke und jeden abgesägten Hochstamm-Obstbaum, Bäche wurden kanalisiert oder verrohrt, Wege verbreitert und betoniert.
Man förderte also aktiv die Industrialisierung der Landwirtschaft; erklärtes Ziel war die effiziente maschinelle Bewirtschaftung großer Flächen und die dadurch ermöglichte Ertragssteigerung. Entsprechend gab es eine enorme ökologische Verarmung weiter Gebiete, früher häufige Arten wurden zu Seltenheiten (z. B. viele Wiesenbrüter wie der Kiebitz), Feldvögel finden mangels Insekten und Sämereien keine Nahrung mehr und gehen zurück (wie Feldlerche oder Rebhuhn), anderen fehlen Unterschlupf oder Deckung, Laichgewässer (Amphibien) oder Nistgelegenheiten.
Je geringer die Strukturvielfalt der Landschaft, desto geringer wird die Artenzahl.
Neues Bewusstsein, aber nicht überall
In den letzten Jahrzehnten hat sich das Bewusstsein gewandelt und der Verlust an Artenvielfalt und Lebensräumen wurde zunehmend als Problem wahrgenommen.
Aspekte des Naturschutzes haben Einfluss auf das politische Handeln gewonnen und sind auch in die Gesetzgebung eingeflossen. So wurden und werden viele Renaturierungsmaßnahmen ergriffen, Schutzgebiete ausgewiesen, Moore wieder vernässt, Sekundärbiotope wie etwa Steinbrüche oder Kiesgruben gesichert, Programme zur Stützung von wenig rentablen Nutzungsformen aufgelegt etc. Die Verwaltung ist gehalten, bei allen Baumaßnahmen Naturschutzaspekte zu berücksichtigen und bei Biotopverlusten Ausgleichsflächen auszuweisen.
Landespflegebehörden haben die ökologische Entwicklung der Regionen im Blick und erarbeiten Schutz- und Pflegekonzepte, um Biotope zu erhalten und zu entwickeln. In der Forstwirtschaft gibt es eine allmähliche Abkehr vom Ideal der optimierten Holzproduktion.
Auch die Landwirtschaft ist teilweise in Pflegemaßnahmen eingebunden (z. B. Mahd oder Beweidung von Grünland, Pflege von Streuobstwiesen, Verhinderung oder Rücknahme der Verbuschung von wertvollen Offenstandorten wie Trockenrasen und Heiden etc.).
Dadurch sind heute viele unserer ökologisch wertvollsten Bereiche keine Wildnis im Sinne von ursprünglich gebliebenen und wenig vom Menschen beeinflussten Flächen mehr, sondern im Gegenteil vom Menschen bewusst und aktiv erhaltene und gepflegte Teile unserer Kulturlandschaft, der damit ein Teil ihrer früheren Vielfalt erhalten oder wiedergegeben werden soll.
Wachsen oder weichen
Die eigentliche Landwirtschaft ist aber bis heute immer weiter intensiviert und auf Höchstertrag getrimmt worden; durch ökonomischen Druck und niedrige Preise wie in der Milchwirtschaft und starke Exportorientierung beispielsweise bei der Fleischproduktion verschwanden und verschwinden immer mehr Höfe. Deren Flächen werden von den verbleibenden Betrieben übernommen, die dadurch immer größer werden und mit immer mehr Technik einschließlich Computerisierung und Satellitentechnik riesige Flächen bewirtschaften.
Das Prinzip lautet seit Jahrzehnten schon und immer noch: Wachsen oder Weichen. In der Landwirtschaftspolitik spielen ökologische Aspekte bis heute kaum eine Rolle. Bislang ist es nicht gelungen oder auch nur ernsthaft versucht worden, ökologische Wirtschaftsweisen voranzubringen und schädlichen Auswirkungen der konventionellen Landwirtschaft wie dem Artenverlust oder der Nitratanreicherung im Grundwasser durch die Überdüngung zu begegnen.
„Echte“ Wildnisgebiete
Nicht ganz, aber beinahe unberührt sind kleine Reliktgebiete ursprünglicher Landschaft wie Auwälder, Bergbäche, Hochmoore, ungenutzte alpine Gebiete, also Bereiche, in denen es noch nie eine intensivere menschliche Einflussnahme gegeben hat oder heute sie bewusst unterbleibt, wie etwa in den Kernzonen der Nationalparks wie dem Wattenmeer oder dem Bayerischen Wald. Dort findet z.B. keine Forstwirtschaft mehr statt und so wird wieder eine ungesteuerte und natürliche Waldentwicklung ermöglicht.
Wildnisflächen im weiteren Sinn, also sekundäre, nicht ursprüngliche Wildnis, gibt es überall dort, wo der Mensch keinen Einfluss mehr nimmt oder nehmen kann wie z. B. Brachland, Industrieruinen, ehemalige Tagebaue, durch Blindgänger kontaminierte ehemalige Militärflächen etc. Auch die radioaktiv verseuchten Gebiete um Tschernobyl zeigen die Wiederkehr der Wildnis.
Wildnis ist im Grunde überall
Noch allgemeiner gesprochen: Die Wildnis ist potentiell überall und war nie weg, auch in den Städten. Man kann deswegen auch einfach das Leben als Wildnis bezeichnen, das sich trotz aller menschlichen Aktivitäten entwickelt und vermehrt, ohne vom Menschen beherrscht oder auch nur gewollt zu sein. Das zieht sich von der Ausbreitung konkurrenzstarker, aber harmloser und oft schön anzusehender invasiver Pflanzenarten bis hin zur Verbreitung von schwer zu bekämpfenden Parasiten oder gefährlichen Krankheitserregern wie aktuell dem Coronavirus.
Die Wildnis kann also Macht entfalten und birgt immer die Gefahr des Kontrollverlustes; sie kann zum Feind werden. Die Rückkehr des Wolfes sehen manche als Symbol für einen solchen gefährlichen Kontrollverlust. Wieder eingebürgerte Biber fällen Bäume und sorgen für Überschwemmungen, indem sie Dämme errichten. So wird manche Art, egal ob ursprünglich heimisch oder eingewandert, als Bedrohung für das Leben und Wirtschaften des Menschen angesehen, was ja in manchen Fällen auch nicht von der Hand zu weisen ist.
Die Wildnis ist also bestimmt kein ursprüngliches Paradies, sie existiert im Grunde überall weiter, lauert auf ihre Chancen und übernimmt sofort wieder das Kommando, wenn sie die Gelegenheit dazu bekommt. Wenn es uns einmal nicht mehr gibt, bleibt sie und führt dann wieder allein Regie.
Aber noch liegt es in unserer Hand, der Wildnis nach unserem Ermessen Spielräume zu belassen, unsere ererbte natürliche Vielfalt durch Pflege und Schutz zu erhalten und dennoch für ein gutes Auskommen und hinreichende Sicherheit für uns selbst zu sorgen. Die Natur dafür einen überhöhten Preis zahlen zu lassen, ist dabei nicht nur unnötig, sondern schadet uns auf die Dauer selbst, denn wir brauchen die Natur mindestens so sehr wie sie uns.
Wir haben die Wahl
Der Hausrotschwanz übrigens war als Felsbrüter ursprünglich ein reiner Gebirgsbewohner, bis er von Menschen errichtete Gebäude als Brutfelsen zu nutzen begann und in die Städte zog; das Gänseblümchen hat erst durch die Schaffung von Wiesen und Rasenflächen den Weg aus dem Mittelmeergebiet zu uns gefunden. Pflegen wir unseren Rasen weiter wie gewohnt und bekämpfen wir es nicht, bleibt das Blümchen in großer Zahl erhalten.
Mähen wir seltener, düngen und bewässern wir nicht mehr, entsteht eine bunte Wiese mit größerer Artenzahl, das Gänseblümchen hat es dann aber schwer. Stellen wir die Pflege ein, übernimmt die „Wildnis“: Es keimen Gehölze, eine Brache entwickelt sich und nach wenigen Jahrzehnten haben wir einen jungen Wald. Geben wir der Wildnis Raum, nimmt sie ihn sich; inwieweit wir das wollen, liegt in unserer Hand. Wir haben die Wahl.