Die Wartezeit auf eine Psychotherapie überbrücken
Depressionen, Angst- und Essstörungen – es gibt viele Gründe, sich Hilfe bei einem Psychotherapeuten oder Psychiater zu suchen. Doch diese sind meist überlastet, lange Wartezeiten auf ein Erstgespräch sind die Regel. Dabei kann man auch diese Zeit gut für sich nutzen - und nicht immer muss es gleich eine Psychotherapie sein.
Der Landshuter Verhaltenstherapeut Benedikt Waldherr verweist etwa auf Beratungsangebote der katholischen und evangelischen Kirche. Immer weniger Menschen haben nach seiner Beobachtung kirchliche Beratungsstellen oder auch psychosoziale Angebote von Caritas und Diakonischem Werk auf dem Schirm. Dabei gebe es zahlreiche gute Angebote „unterhalb der Psychotherapie-Schwelle“. Solche Beratungsangebote haben laut Waldherr eine wichtige Funktion, weil dort unter anderem geklärt werde, ob jemand überhaupt eine Psychotherapie benötige. Oft brauchten ratsuchende Menschen etwas anderes - etwa medizinische Hilfe, eine Ehe- oder eine Schuldnerberatung.
Wo finde ich anonym und kostenlos Hilfe?
Jederzeit ein offenes Ohr finden Menschen in psychischen Krisen bei der Telefonseelsorge - anonym und kostenlos unter 0800/111 0 111 und 0800/111 0 222.
In Bayern gibt es zudem noch den psychischen Krisendienst, der rund um die Uhr unter der kostenlosen Telefonnummer 0800 / 655 3000 erreichbar ist.
Normale Krisen gehören zum Leben
Ein Grund für den Run auf Therapeuten sieht der Vorstand des Bundesverbandes der Vertragspsychotherapeuten auch in Medienberichten über psychische Krisen. „Relativ viel wird gleich als psychische Erkrankung angesehen“, sagt der Experte. Grundsätzlich schwinde in der Gesellschaft das Bewusstsein, „dass normale Krisen zum Leben gehören“.
Um die Wartezeit auf eine Therapie zu überbrücken, kann laut Waldherr auch eine Selbsthilfegruppe eine gute erste Anlaufstelle sein. Solche Gruppen von Schicksalsgenossen, etwa mit Alkohol- und anderen Drogenproblemen, leisteten nicht nur gute Arbeit, sondern hätten auch einen weiteren Vorteil: „Sie sind weniger manipulierbar als ein einzelner Therapeut, dem ein Patient absichtlich Unwahrheiten sagt oder Dinge verschweigt.“
Ein Therapeut ist kein Wunderheiler
Waldherr gibt zu bedenken, dass ein Therapeut kein „Wunderheiler“ sei, der schon alles richten werde. Vielmehr biete eine Therapie Hilfe zur Selbsthilfe – „die Arbeit macht nicht der Therapeut“. Der Verhaltenstherapeut vergleicht seine Arbeit mit der einer Hebamme; „die Schmerzen hat die Frau“.
Menschen, die sich in Lebenskrisen Unterstützung wünschen, nutzen mitunter auch Coachingangebote. Zahllose Einträge und Ausbildungsmöglichkeiten belegen, dass es einen großen Bedarf an solcher Beratung durch private Anbieter gibt. Coaching sei ein „schillernder, weit gefasster Begriff“, der zudem weniger schambehaftet sei als eine Psychotherapie, so Waldherr. Es sei durchaus möglich, auch dabei kompetente Hilfe zu erfahren, etwa bei einem erfahrenen Heilpraktiker.
Bei ernsten Krisen professionelle Hilfe suchen
Solche Angebote würden in der Regel von Menschen ohne langjährige spezifische Psychotherapieausbildung erbracht. Deshalb würden sie - anders als bei einem niedergelassenen Psychotherapeuten - nicht von der Krankenkasse bezahlt. Ob und wie man Coachingangebote nutzen kann, hänge damit auch vom eigenen Geldbeutel ab.
Bei ernsten Krisen ist allerdings professionelle Hilfe ratsam. Auf die müssen Erkrankte meist lange warten. So vergehen laut der Stiftung Deutsche Depressionshilfe und Suizidprävention durchschnittlich 20 Monate, bis sich Menschen mit einer depressiven Erkrankung Hilfe suchen.
Wie helfen Kirchen?
Katholische und evangelische Kirche haben zahlreiche Beratungsstellen, die Menschen bei Krisen unterstützen. In Deutschland gibt es alleine 330 Ehe-, Familien- und Lebensberatungsstellen in katholischer Trägerschaft. Auch die Caritas bietet in bundesweit rund 3.000 Beratungsstellen Unterstützung in Krisen an - von allgemeiner Sozialberatung über Schulden- und Suchtberatung bis zu Trauerberatung.
Wer in Bayern einen psychischen oder psychiatrischen Notfall erleidet, kann von einem bundesweit einmaligen Angebot profitieren: den flächendeckend und rund um die Uhr verfügbaren Krisendiensten. Speziell ausgebildete Mitarbeitende - unter anderen Fachkräfte aus Psychologie und Psychiatrie sowie Sozialpädagogen - beraten telefonisch. Bei Bedarf fahren mobile Einsatzkräfte direkt zu den betroffenen Menschen. „Wir verstehen uns als Rettungsdienst für Menschen in seelischen Notlagen“, erklärt Cornelia Maier, Geschäftsführerin vom Krisendienst Psychiatrie Oberbayern. Allein in Oberbayern gebe es mit rund 1.000 Mitarbeitenden „ein Riesennetzwerk“. Dort wurden die Krisendienste vor rund acht Jahren als Modellprojekt ins Leben gerufen. Inzwischen ist das Angebot gesetzlich verankert und seit Juli 2021 zu jeder Tages- und Nachtzeit für Menschen in psychischen Notlagen, aber auch deren Angehörige erreichbar. Es stößt auf große Resonanz. Bereits im ersten Jahr haben sich in Bayern über 60.000 Menschen gemeldet
Wir verstehen uns als Rettungsdienst für Menschen in seelischen Notlagen
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Header-Bild: Daniel Reche (pixabay)