Die Kirche baut die Kleinfamilie
Es ist eine der befremdlichen Szenen im Neuen Testament: Jesus tritt in Galiläa als Wanderprediger auf, verkündet das Reich Gottes und versammelt Anhänger um sich. Seine leibliche Familie gerät darüber in Sorge. Daher kommen sie zu Besuch. Vielmehr, sie versuchen es. Denn Jesus, umgeben von seinen Anhängern, lässt sie nicht ein. Diejenigen, die den Willen des Vaters tun, seien seine Mutter und seine Brüder. Jesus deutet also in dieser Szene den Familienbegriff neu, auf die Gemeinschaft seiner Anhänger, nicht mehr auf die leibliche Familie (Mt 12,46-50).
Die Szene wird erklärbar aus den apokalyptischen Erwartungen der Bewegung, die sich um Jesus bildete: Wenn das Reich Gottes bevorsteht, dann verlieren alte Ordnungen an Bedeutung. Und zu diesen alten Ordnungen gehören auch die Familienbande, die in den antiken Kulturen die entscheidenden Netzwerke für die Menschen waren.
Für die meisten erscheint das Christentum dagegen als eine Religion, welche die Familie stützt. Praktizierende Christen gelten allgemein als familienorientierter und haben mehr Kinder als ihre nicht-religiösen Nachbarn. Wie kam es dazu, dass trotz der beschriebenen Tendenzen Jesu das Christentum heute als familienfreundlich gilt?
Schwächung von Großfamilien-Verbänden
In den Jahrhunderten nach der Auferstehung Jesu begann sich das Christentum an der Umgebungsgesellschaft zu orientieren. Im 5. Jahrhundert war die lateinische Kirche schließlich zur dominanten religiös-kulturellen Kraft in Südwest-Europa geworden. Doch ihr familienkritischer Grundzug blieb und so ging sie nun daran, die Strukturen der traditionellen Clan-Großfamilien aufzubrechen. So suchte sie, Heirat zwischen nahen Verwandten zu verhindern, untersagte Zwangsheiraten und hielt Neuvermählte dazu an, wo möglich eigene Haushalte zu gründen. Dadurch förderte die Kirche die Individualität im lateinischen Europa. Zuvor war der Clan der dominante Bezugsrahmen der europäischen Ackerbauern gewesen, der durch den Familienältesten dominiert wurde, der die Mitglieder seiner Gemeinschaft zur Konformität anhielt.
Dieser Einfluss ist immer noch zu spüren. Laut dem US-Anthropologen Joseph Henrich sind die damals geschaffenen Grundlagen heute wesentlich dafür verantwortlich, dass etwa Westeuropäer eine verhältnismäßig geringere Neigung haben, Posten an eigene Verwandtschaft zu vergeben, und auch dafür, dass sie verhältnismäßig offen für Fremde sind; ein weiteres wichtiges Erbe ist der relativ ausgeprägte Individualismus westlicher Gesellschaften.
Zugleich zeigt sich: Der Einfluss der lateinischen Kirche hat zwar die Großfamilie geschwächt, aber die Kleinfamilie gestärkt. Auf diese Tradition konnte im 19. Jahrhundert zurückgegriffen werden.
Die Familie als Rückzugsort
Im 19. Jahrhundert kam es zu einem Prozess der Modernisierung, zunächst im westlichen Europa. Dieser Modernisierungsprozess wird vor allem mit dem Phänomen der funktionalen Ausdifferenzierung verbunden; das bedeutet, dass die Menschen je nach der Funktion, die sie gerade ausüben, bestimmte Rollen einnehmen, die mit eigenen Regeln verbunden sind und die mit anderen Rollen in Konflikt treten können. Die soziale Ausdifferenzierung führt daher zu einem zunehmenden Sozialstress, da die Menschen unterschiedliche Werteund Regelkonzepte miteinander verbinden müssen. Von diesem Phänomen war die kleinbürgerliche Familie noch relativ wenig betroffen. In ihr wurde das Gesamtverhalten der Mitglieder noch immer nach einem einheitlichen Wertmaßstab thematisiert.
Die funktionale Ausdifferenzierung befördert zudem eine zunehmende Säkularisierung und Entkirchlichung. Der Anspruch religiöser Institutionen, das Verhalten ihrer Mitglieder unter einem einheitlichen Wertmaßstab zu prägen und den Sinn für alle Aspekte des Lebens zu deuten, verliert an Geltung. Doch wie sollten die Kirchen diesen Verlust an Deutungsmacht aufhalten?
Sie verbanden sich dafür zunehmend mit der Kleinfamilie. Hier konnten sie den Anspruch als Leitmotiv noch am besten verwirklichen. Zugleich entsprachen jene Werte, welche der kleinbürgerlichen Familie Dauerhaftigkeit verliehen, christlichen Moralvorstellungen.