Das Siegel des Glaubens im Alltag bewahren
"Darauf gebe ich dir Brief und Siegel" - wer so etwas sagt, meint es ernst. Jemandem Brief und Siegel geben bedeutet, ihm etwas fest zusichern, eine Aussage oder Versprechung machen, auf die sich das Gegenüber wirklich verlassen kann. Siegel kennen wir vor allem noch aus Geschichtsbüchern oder historischen Filmen. Sie waren die Stempel und Unterschriften früherer Zeiten und legitimierten die Rechtmäßigkeit eines Schreibens oder einer Urkunde. Ganz allgemein gesprochen. sind Siegel dazu da, Besitz- oder Machtansprüche geltend zu machen. Tiere werden mit Brandzeichen oder Tätowierungen versehen, und in den dunklen Kapiteln der Geschichte auch Menschen. Sklaven wurden ebenso mit solchen Zeichen versehen wie die Häftlinge in den Konzentrationslagern der Nationalsozialisten oder die Mitglieder der SS. Wer eine Tätowierung als Siegel eines Macht- oder Eigentumsanspruchs trug, der gehörte nicht mehr sich selbst, war keine freie Person mehr. Er stand unter dem Einfluss eines anderen, Mächtigeren, unter jemandem, der sein Besitzer, sein Unterdrücker oder sein Führer war. Auch heute noch sind Siegel nicht unbedeutend. Der Gerichtsvollzieher besiegelt gepfändete Gegenstände, und wer bestimmte Produkte im Supermarkt kauft, wartet beim Öffnen auf den Knack des Frischesiegels, der ihm zeigt, dass das erworbene Lebensmittel wirklich noch ungeöffnet war. Siegel bieten somit eine gewisse Sicherheit oder zeigen Besitzansprüche an.
Besiegelt als Eigentum Gottes
Mit dem Siegel, von dem die Lesung im Gottesdienst an Allerheiligen spricht, ist es eigentlich nicht anders. Inmitten der endzeitlichen Visionen der Offenbarung des Johannen bietet die Lesung des Festtags (Off 7,2-4.9-14) dem Hörer eine Atempause an. Der Blick richtet sich auf die, die auf Gott hoffen und ihm glauben, auf seine Knechte. Dieses Volk der Knechte Gottes, Juden und Heiden, wird durch die zwölf Stämme Israels repräsentiert. Ihnen wird "das Siegel auf die Stirn gedrückt" (Offb 7,3).
Das Siegel Gottes auf die Stirn gedrückt zu bekommen hat eine andere Qualität als die Brandmarkung von Sklaven und Häftlingen. Wer Gottes Eigentum ist, zu ihm gehört, ist nicht Teil einer rechtlosen Masse, sondern Kind Gottes (vgl. 1 Joh 3,1).
Dieser Gott fordert keine gesichtslose Schar von Sklaven. Es ist die Gruppe der Geretteten, die Christus, dem Lamm Gottes, folgen. Diese Nachfolge kann kein sklavisches Hinterherlaufen sein, weil Gott den Menschen als freies Wesen geschaffen hat. Nachfolge erfordert niemals Kadavergehorsam, sondern zeichnet sich durch Freiwilligkeit aus. Der, der Gott nachfolgt, hat erkannt, dass dieser Gott ihm etwas zu bieten hat. Dass es dabei nicht um vordergründiges Vergnügen, sondern um die Suche nach Sinn und echter Erfüllung geht, versteht sich von selbst. Die nämlich, die zum Volk Gottes gehören, leben ein Leben, dass nicht unbedingt einfach ist. Sie erleben Kritik, Anfeindungen und Bedrängnisse, aber ihnen gilt die Zusage Gottes, dass er sie retten wird.
Besiegelt als Glied des Volkes Gottes
Erlebbar wird dies im kirchlichen Leben besonders in der Taufe. In den Riten der Feier wird deutlich: Der Täufling ist ein Kind Gottes, ist aufgenommen in die Kirche und begibt sich nun auf einen Lebens- und Glaubensweg, in dem es aber auf ihn ankommt. Bei der Salbung mit Chrisam spricht der Zelebrant: "Du bist Glied des Volkes Gottes und gehörst für immer Christus an". Die Salbung bezeichnet somit die Zugehörigkeit zum Volk Gottes. Damit ist es aber nicht getan. In der Übergabe des Taufkleides und der Taufkerze wird der Neugetaufte eindringlich aufgefordert, die empfangene Würde der Gotteskindschaft ein Leben lang zu bewahren. Der Glaubensweg ist damit nicht abgeschlossen, sondern die eigentliche Aufgabe beginnt erst.
Du bist Glied des Volkes Gottes und gehörst für immer Christus an.
Dass dieses Zu-Christus-Gehören kein statischer Zustand ist, der, einmal erreicht, immer gleichbleibend ist, erfahren wir in unserem Leben zur Genüge. Wie der Neugetaufte im Glauben wachsen muss und diesen Glauben in sein Leben zu integrieren hat, müssen das alle zu Gott Gehörenden ständig tun. Auf diesem Glaubensweg kann es zu mancherlei Bedrängnissen kommen. Einflüsse von außen können den Glauben gefährden. Es müssen nicht gleich Unterdrückung und Verfolgung sein, wie das zur Zeit der frühen Kirche war und noch heute in manchen Ländern der Erde vorzufinden ist. Die Bedrängnis kann sich auch in einer religiös gleichgültigen Umgebung, in der eigenen menschlichen Schwäche oder im mangelnden Vertrauen zeigen.
Wer dies aushält, wer standhält und trotz aller Schwierigkeiten im Glauben treu bleibt, der weiß: "Die Rettung kommt von unserem Gott, der auf dem Thron sitzt, und von dem Lamm" (Offb 7,10). Allen Versuchen des Menschen zum Trotz, sich selbst zu erlösen, sei es durch den Machbarkeitswahn der Moderne oder durch fernöstliche Philosophien, bleibt die Erfahrung, wie sehr wir Menschen auf Erlösung angewiesen sind. Diese Erlösung kann nicht von uns selber kommen, sie muss uns von einem Höheren geschenkt werden. Der zu Christus Gehörende hat dies verstanden. Er weiß zwar um seine Verpflichtung, sich nach Kräften zu bemühen, den Ansprüchen des Siegels gerecht zu werden, das er trägt, wird aber einsehen, dass er es alleine nicht schaffen kann.
Heilig ist, wer das Siegel des Glaubens im Alltag bewahrt
Die Geretteten, von denen uns die Offenbarung heute erzählt, haben dies verstanden. Auch sie kennen die Bedrängnisse auf dem Weg des Glaubens, sie haben Verfolgung und Martyrium erlebt, aber sie haben nicht aufgegeben, haben ihre Hoffnung auf Christus gesetzt, "ihre Gewänder gewaschen und im Blut des Lammes weiß gemacht" (Offb 7,14). Am Fest Allerheiligen feiern Katholiken solche Menschen: unzählige Gläubige aller Zeiten und Orte, die den Weg des Glaubens durch jegliche Bedrängnis hindurch bis zum Ende gegangen sind. Sie alle, ob offiziell als Heilige anerkannt oder nicht, sind uns Vorbild und Mahnung, das Siegel des Glaubens in unserem Alltag zu bewahren und in allen Schwierigkeiten auf den zu vertrauen, der uns als seine Kinder angenommen hat. Jeder der dies tut "heiligt sich, so wie Er (auf den wir unsere Hoffnung bauen) heilig ist" (1 Joh 3,3).