Ruhe, Kunst, Gebet oder eine Kerze anzünden
Berlin/Erfurt/Zürich - Vielleicht ist es vor allem die Ruhe, die Menschen in eine Kirche zieht. Kein Straßenlärm dringt durch die dicken Mauern, kein Handy klingelt. Vielleicht ist es auch die Weite des Raums und der Duft vieler brennender Kerzen, der an Geburtstag oder Weihnachten erinnert.
Rund 45.000 katholische und evangelische Kirchen gibt es in Deutschland - kleine pittoreske Kirchen wie etwa die Bonner Kreuzkirche, in der Verliebte gern heiraten, prächtige Dome wie in Köln oder Berlin, schlichte Gemeindekirchen aus rotem Backstein wie in Norddeutschland oder auch Architektur-Highlights wie etwa die Bruder-Klaus-Feldkapelle von Gottfried Böhm in Mechernich.
Innehalten, abschalten, sich fallen lassen, Trost finden: Nicht nur kirchlich gebundene Menschen wissen die Atmosphäre von Kirchenräumen zu schätzen. Offene Kirchen werden gern besucht - außerhalb des Gottesdienstes. Jährlich strömen hunderttausende Menschen in die Kathedralen, Dome und Münster von Berlin, Basel und anderen Städten - sei es, um die bunten Kirchenfenster von Gerhard Richter im Kölner Dom auf sich wirken zu lassen, das Altarbild von Michael Triegel im Naumburger Dom, die Fenster von Marc Chagall in der Mainzer Sankt-Stephan-Kirche, die Barlach-
Skulpturen im Dom in Güstrow oder das Fenster von Sigmar Polke im Zürcher Großmünster.
Der dortige Pfarrer Christoph Sigrist erzählt, dass an einem normalen Samstag in Zürich rund 3.000 Menschen das Münster aufsuchen. Trotz ständig weniger werdender Kirchenmitglieder gebe es ein nach wie vor hohes, sogar zunehmendes Interesse an den großen City-Kirchen in Deutschland und der Schweiz. Es habe eine „Nutzungsverschiebung“ stattgefunden: vom Besuch des sonntäglichen Gottesdienstes zum Besuch des Kirchenraums unter der Woche, sagt Sigrist, der über das Phänomen ein Buch herausgegeben hat. Dabei spiele es keine Rolle, ob man gläubig oder Mitglied der Institution Kirche sei - oder nicht.
Die Menschen binden sich nicht an die Institution, sondern an den Raum.
„Die Menschen binden sich nicht an die Institution, sondern an den Raum. Hier werden eigene Rituale ausprobiert, die nicht vorgegeben sind.“ So kämen etwa auch Angehörige anderer Religionsgemeinschaften gern. „Unsere reformierte Kirche ist zu einem interreligiösen Gebetsraum geworden. Auch viele Muslime kommen her, verrichten hier etwa ihr Freitagsgebet, zum Beispiel, wenn das Großmünster näher zu ihrem Arbeitsplatz liegt als die Moschee“, berichtet Sigrist.
Seit Beginn des Krieges besuchten auch sehr viele ukrainische Flüchtlinge mit orthodoxem Hintergrund die Kirche. „Sie ist mit ihren beiden Türmen in der Mitte der Stadt für die Menschen, die hier ankommen, klar als Gotteshaus erkennbar - noch bevor sie wissen, wo sich die orthodoxen Kirchen befinden“, sagt er.
Pfarrer Michael Neudert von der Erfurter Innenstadtpfarrei Sankt Laurentius hat mit Blick auf den Ukraine-Krieg ähnliche Erfahrungen gemacht. Er erzählt, dass zurzeit das Gästebuch im Erfurter Dom alle drei Wochen ausgetauscht wird – „dann sind die 40 Seiten voll“, berichtet er. Vieles sei in kyrillischer Schrift geschrieben. Aber auch deutsche Besucherinnen und Besucher sorgen sich um den Krieg: „Er ist bei vielen Menschen Thema.“ Viele Menschen kämen auch, um einfach eine Kerze anzuzünden. „In der Adventszeit brennen unbeschreiblich viele Kerzen im Dom“, sagt Neudert - was aber auch daran liege, dass der Weihnachtsmarkt genau vor dem Dom aufgebaut ist. Von einem „riesigen Zulauf“ möchte er nicht sprechen - aber „vielleicht ist es etwas mehr geworden“, so der Geistliche.
Viele Menschen kämen auch zu dem Adventssegen, der immer donnerstags und freitags vor dem Dom stattfindet. „Die Leute fühlen sich angezogen, aus verschiedenen persönlichen Erwägungen.“
Ein Gotteshaus an einer belebten Straße, idyllisch gelegen mitten in einem Dorf oder als architektonisches Zentrum einer Großstadt: Eine Kirche ist kein Gebäude wie jedes andere, sondern fast immer schnell als solche identifizierbar. Sie setzt sich allein durch ihr Äußeres von der Umgebung ab, befindet sich aber durch ihre meist zentrale Lage mitten im Alltag der Menschen, die an ihr vorbeikommen auf dem Weg zur Arbeit oder die ihre Glocken schlagen hören, wenn sie Einkäufe erledigen oder abends im Bett liegen.
Die Historikerin Roberta Rio beschreibt in ihrem Buch „Der Topophilia-Effekt. Wie Orte auf uns wirken“, dass fast alle mittelalterlichen Kathedralen wie auch der Kölner und Speyrer Dom auf besonderen Plätzen gebaut wurden. Bei einigen habe die Forschung gezeigt, dass es dort unterirdische Wasseradern gibt. Für die Forscherin sind Kirchen auch deshalb „Kraftorte“. „Wer sich mit den Texten alter Baumeister auseinandersetzt, bemerkt, dass diese Orte stets bewusst gewählt wurden. Denn dort glaubte man Kräfte der Natur am Werk, um gewisse Phänomene wie das Streben nach Spiritualität oder das Gefühl von Mystischem zu erzeugen“, sagte Rio einmal im Interview der Katholischen Nachrichten-Agentur.
Ein Blick ins Gästebuch einer Berliner Pfarrkirche macht klar: Die Gründe, eine Kirche außerhalb des Gottesdienstes aufzusuchen, sind ganz unterschiedlich. Eine Frau wurde vor Jahrzehnten hier getraut. Ein Mann macht sich Sorgen um den todkranken Vater. Ein Junge schreibt: „Lieber Gott, bitte mach, dass die Welt nicht in Grauen und Entsetzen zerbricht. Alle Kriege sollen zerbrechen.“
Die Menschen seien „auf der Suche nach Spiritualität“, sagt Hermann Fränkert-Fechter, der lange Projektleiter der Aktion „Offene Kirchen“ des Erzbistums Berlin war. Für ihn ist es vor allem wichtig, Menschen, die eine Kirche besuchen, ihren Freiraum zu lassen. „Die allermeisten Kirchenbesucher wollen vorbeischauen, ein wenig verweilen und vor allem nicht vereinnahmt werden“, sagt er. „Die Besucher sollen Gastfreundschaft erfahren - und dürfen auch wieder gehen“.
Nina Schmedding (KNA)