Das Fest der Liebe im Schützengraben
"Kriegsweihnachten" - aus dem Nebel der Geschichte tritt nun wieder dieses alte Wort in unser Bewusstsein, das wir doch nur aus den Erinnerungen der Alten kannten.
Kälte, Hunger und Entbehrung zwangen die Menschen damals in vielen Ländern zur Improvisation, das Christfest mit Würde zu feiern. Heute schaut die Lage im Osten unseres Kontinents ähnlich aus.
Das Fest der Liebe in einem Umfeld von Hass und Gewalt scheint eine Art Ausnahmezustand im Ausnahmezustand zu sein. Folgt man den Erzählungen unserer Vorfahren, dringt die christliche Kernbotschaft aus dem Stall von Bethlehem in der Not tiefer in die Herzen als in den Wohlstandsjahren, wo üppige Speisen und Geschenke den Anlass des Festes nur als folkloristisches Hintergrundrauschen vernehmbar machen.
Auch unter christlich-dogmatischen Gotteskriegern mag es Zyniker geben, die ihren Menschen mehr Not wünschen, auf dass sie zum Erlöser oder dem, den sie dafür halten, zurückfinden. Doch selbst die schlimmsten Aggressoren gestehen ihren Soldaten eine kurze Waffenruhe zu. Attacken während religiöser Feiertage gelten laut Weltethos als besonders barbarisch. Und wo die Soldaten diese Kampfpause nicht bekommen, nehmen sie sie sich einfach.
So genehmigten sich im Ersten Weltkrieg zu Weihnachten deutsche und britische Soldaten in den Stellungen der Westfront in Frankreich mehrfach nicht nur eine Kampfpause über Weihnachten; es kam sogar zu wunderbaren Verbrüderungsszenen zwischen deutschen und britischen Soldaten. 1914 ging ein solcher „Weihnachtsfrieden“ in die Annalen ein. Lange galt er unter Historikern als singuläres Ereignis. Doch der Historiker Thomas Weber von der schottischen Universität in Aberdeen fand heraus, dass es auch 1916 an mehreren Orten zu solchen Verbrüderungen an Weihnachten kam. In dem Örtchen Beaumont Hamel berichtete der im Oktober 1917 gefallene Soldat Arthur Burke des britischen Manchester-Regiments: „Deutsche Soldaten kamen zu uns herüber und tauschten Zigaretten, wir sangen gemeinsam Stille Nacht'.“
Und Weber fand heraus: Weil die Soldaten eigenmächtig für einige Tage das Feuer einstellten, erhielten zwei von Burkes Kameraden 28 Tage Arrest - ein Kurzurlaub vom Sterben. Klar, dass solche disziplinarischen Verstöße gegen die Kampfesdisziplin nicht gerne gesehen waren. Aber selbst dem preußischen Kronprinz Wilhelm nötigten solche Aktionen Bewunderung ab: „Hier hatte das Weihnachtslied mitten im bitteren Ernst des heimtückischen Grabenkrieges ein Wunder bewirkt und von Mensch zu Mensch eine Brücke geschlagen.“
All diese Überlieferungen zeigen, dass das Narrativ der Liebe, des Friedens und der Versöhnung, für das die Geburt Jesu steht, tief im Menschen angelegt ist, gläubig oder nicht. Gerade in Momenten des Todes wurde der Todesüberwinder Christus für die Soldaten in den Schützengräben besonders gegenwärtig, wenn auch nur für jene paar Tage, in denen sich die Feinde zwanglos zwischen den Stellungen hin- und her bewegten.
Und wer überlebt, ist noch lange nicht befreit von seelischen Blessuren. Der Firnis der Verdrängung bekam ausgerechnet an Weihnachtstagen oftmals Risse. In die Beschaulichkeit unterm Christbaum mischte sich das Grauen des Erlebten. Selten wird so viel vom Krieg erzählt wie an Weihnachten. Das geht den Bundeswehrsoldaten mit posttraumatischem Belastungssyndrom heute nicht anders als ukrainischen und russischen Soldaten. Auch sie wollen sich womöglich über die Gräben hinaus verständigen, wo sie doch denselben Christus anrufen.
Seit dem 24. Februar 2022 befindet sich Europa in einem schwelenden Krieg. Seine Geißeln Flucht, Vertreibung, Verzweiflung bestimmen unseren Alltag. Der Dichter Friedrich Hölderlin hinterließ die Zeilen, die dieses Weihnachten vielleicht ganz gut beschreiben: „Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch.“
Der Preis der Weihnachtsgänse hat sich verteuert, die Geschenke werden womöglich kleiner ausfallen, viele Menschen werden in unterkühlten Räumen und unbeheizten Kirchenschiffen das Christfest feiern. Ein Fest, das unser Gespür für den Nächsten jedoch wieder schärfen kann, und das uns deutlich macht, auf welche Art von Wärme es wirklich ankommt.
Andreas Öhler (KNA)