Mazenodfamilie
Im Gespräch
Montag, 20. November 2023

„Zeit, die wir uns nehmen, ist Zeit, die uns etwas gibt“

Elisabeth Schaab hat letztes Jahr die Ausbildung als Fachärztin für Allgemeinmedizin abgeschlossen. Sie arbeitet als angestellte Ärztin in Thurm, einer kleineren Ortschaft der Gemeinde Mülsen im Landkreis Zwickau in Sachsen. Sie ist Assoziierte der Oblaten. DER WEINBERG hat mit ihr über die medizinische Versorgung in der Provinz gesprochen und gefragt, warum sie sich als junge Ärztin bewusst für die Arbeit auf dem Land entschieden hat.

Wie würdest du die Praxis beschreiben, in der du arbeitest?

Unsere Praxis befindet sich in Thurm. Im Jahr 2020 übergab der damalige Praxisinhaber den Staffelstab an unseren Chef Norman Seidel, arbeitet jedoch noch in Teilzeit bis zu seinem endgültigen Ruhestand. Ich verstärkte das Team seit August 2020, durfte meine Assistenzzeit absolvieren und nach meiner Facharztprüfung im vergangenen Jahr ebenfalls als angestellte Ärztin weiterarbeiten.

Seit 2022 wird ein weiterer Assistenzarzt ausgebildet. Zu unserem Team zählen zudem noch fünf Schwestern, eine Auszubildende für den Beruf der Medizinischen Fachangestellten, zwei Bürokräfte, eine studentische Hilfskraft sowie eine Ärztin für Integrative Schmerztherapie mit ihrer eigenen Schwester. Wir pflegen ein herzliches Miteinander, achten auf ein gemeinsames Mittagessen, einen guten fachlichen und menschlichen Austausch untereinander und pflegen unseren Teamgeist seit Neuestem in regelmäßigen Abständen beim gemeinsamen Volleyballtraining.

Wie sieht die medizinische Versorgung in der Region aus? Gibt es genug Fachärzte, Kliniken und Hausarztpraxen?

In den vergangenen Jahren hat sich die medizinische Versorgung in unserer Region verschlechtert. Die kleineren Krankenhäuser kämpfen ums Überleben. Erst im Dezember wurde beispielsweise das ehemalige Kreiskrankenhaus Kirchberg, seit 2012 vom städtischen Heinrich Braun Klinikum betrieben, für die Akutversorgung geschlossen und sukzessive in eine Klinik für Neurorehabilitation umstrukturiert. Bis Jahresende gab es zwei größere Kliniken in Zwickau; aufgrund neuester Entwicklungen kam es auch hier zur Fusion. Spürbar wird dies an der Warteschlange der Rettungswagen vor der zentralen Notaufnahme, den Wartezeiten für die (wirklich) kranken Patienten und natürlich auch für Aufnahmetermine zur Diagnostik.

Viele Haus- und Fachärzte verabschieden sich in den nächsten Jahren in den Ruhestand. Erst im vergangenen Jahr schloss eine Praxis für Allgemeinmedizin mit ehemals vier Ärzten. Tausende Patienten stehen noch heute „auf der Straße“, die sich wiederum in der Portalpraxis oder im Rahmen der eigentlichen Notfallversorgung (116117) vorstellen. Die Wartezeiten auf einen Termin beim Lungenfacharzt liegen durchschnittlich bei sechs Monaten, bei einem Neurologen oder gar Kardiologen kann es auch schon mal länger dauern. Ich glaube aber nicht, dass es sich um ein regionales Problem handelt.

Laut dem „Ärzteblatt Sachsen“ (Ausgabe 7/2023, S.30) seien „von den circa 1800 allgemeinmedizinisch tätigen Ärzten 64 Prozent […]“ über 50 Jahre alt. Diese Angabe bezieht sich jedoch lediglich auf die Hausärzte in Sachsen im Allgemeinen.

Warum hast du dich für die Arbeit auf dem Land entschieden?

Das ist eine sehr gute Frage: Inspiriert durch meine ehemalige Hausärztin wollte ich definitiv die Facharztrichtung Allgemeinmedizin einschlagen. Das Leben in einer Großstadt wie Dresden mit seiner Anonymität gefiel mir nicht. Der Entschluss reifte zeitig nach dem Studium in die Heimat zurückzukehren. Im Rahmen des Wahltertials im Praktischen Jahr (PJ) erprobte ich dann meinen Berufswunsch auf Herz und Nieren und durfte in einer Landarztpraxis in Ortmannsdorf (ebenfalls Mülsen) arbeiten. Meine Faszination für das Fach wuchs aber auch für die Menschen auf dem Land.

Was unterscheidet die Arbeit von der Arbeit in einer städtischen Umgebung?

Zu Beginn meiner klinikexternen Weiterbildung durfte ich cirka ein halbes Jahr in einer städtischen Praxis arbeiten und anschließend in die jetzige Praxis wechseln. Beides bietet seine Vor- und Nachteile. In der Stadt erfahre ich mehr Anonymität. Viele Patient*innen recherchieren Diagnosen und Therapievorschläge, fordern diese oder lassen sich auf Alternativen ein. Die Frequenz der Hausbesuche und die Wege waren deutlich reduzierter, die Patienten im Durchschnitt auch etwas jünger.

Auf dem Land erlebte ich am Anfang sowohl Neugier als auch Misstrauen, das sich gefühlt jedoch nach wenigen Monaten abbauen ließ. Man muss dazu sagen, dass ich zum damaligen Zeitpunkt die einzige Ärztin war, die nicht aus dem Dorf stammte. Das lässt manchmal viel Platz für Spekulationen. Der Altersdurchschnitt liegt deutlich höher, sodass wir auch viele Hausbesuchspatient*innen sowie zwei Pflegeheime in Mülsen betreuen.

Aufgrund der derzeitigen Versorgungssituation übernehmen wir viele Aufgaben sowohl in Diagnostik als auch Therapie, pflegen ein kollegiales Miteinander mit den Nachbarpraxen, der Dorfapotheke und der örtlichen Physio- und Ergotherapie. Ich absolviere derzeit noch die Weiterbildung zur Palliativmedizinerin, um in Zusammenarbeit mit dem Brückenteam unsere Patient*innen bis zu ihrem Lebensende zu Hause begleiten zu können. Der Arbeitsaufwand in einer ländlichen Hausarztpraxis ist deutlich höher. Doch man wächst im Team und selbst immer wieder an neuen Herausforderungen.

Was macht dir besonders Freude an deiner Arbeit?

Ich freue mich tatsächlich jeden Tag auf unsere Schwestern, die uns das Leben in der Praxis erleichtern und so angenehm wie möglich machen. Der Arbeitsalltag ist alles andere als eintönig oder vorhersehbar. Ich schätze die herzlichen Begegnungen mit vielen unserer Patient*innen, besonders auch während der Hausbesuche oder im Rahmen der Palliativbegleitung, in denen ich auch versuche, meine Berufung als Assoziierte der Oblaten in meinem Alltag zu leben.

Was findest du belastend?

Hand aufs Herz – gelegentlich empfinde ich die Arbeitsbelastung schon erdrückend, zumal demnächst eine unserer Nachbarpraxen ihre Türen schließt und erneut viele Patient*innen einen neuen Hausarzt bräuchten. Diese Entwicklung bereitet mir Sorgen, aber auch die Situation in den Krankenhäusern und Facharztpraxen. Der Ton wird rauer, die Verantwortlichkeiten verschoben und die Wartelisten immer länger. Dennoch fahre ich noch gern auf Arbeit.

Siehst du deine berufliche Zukunft dauerhaft auf dem Land?

Aus jetziger Sicht kann ich mir nichts anderes vorstellen.

Vorschau
Das gute kollegiale Miteinander im Team erleichtert den oft fordernden Praxisalltag

Was hältst du von der „Landarztquote“ und hast du sie evtl. auch genutzt?

Die sogenannte Landarztquote ist ein Instrument, um besonders dem Hausarztmangel in ländlichen Regionen entgegenzuwirken. Sie wurde in einigen Bundesländern etabliert, um einen Teil der Studienplätze an Student*innen zu vergeben, die sich perspektivisch eine (allgemeinmedizinische) Niederlassung im ländlichen Bereich vorstellen, und wird vertraglich geregelt. Hiernach muss der/die Unterzeichnende später auch in einem solchen (drohend) unterversorgten Gebiet arbeiten.

Sicherlich braucht es Ideen, die derzeitige und künftige Versorgungssituation zu verbessern. Das Konzept überzeugt mich jedoch in vielen Aspekten überhaupt nicht.

Erstens betrifft der Ärztemangel auch die kleineren Städte und des Weiteren auch viele Facharztpraxen. Als Beispiel möchte ich hier zum Beispiel die Augenheilkunde ansprechen.

Zweitens greift die Vertragsbindung ab dem ersten Semester. Die ersten beiden Studienjahre beschäftigen sich lediglich mit den Grundlagen, insbesondere in den Hauptfächern Anatomie, Physiologie und Biochemie. Nach dem Physikum lernt man anschließend die klinischen Fächer mit ihren Besonderheiten kennen – und lieben. In meinem Abschlussjahrgang wusste rund ein Drittel der Student*innen vor dem Praktischen Jahr nicht, welche Facharztrichtung perspektivisch die favorisierte sein würde! Entscheidet man sich nun also um, muss die Förderung zurückgezahlt werden. Und das Stipendium kann später nicht nochmals vergeben werden. Möglicherweise wäre es sinnvoll, dieses erst im fortgelaufenen Studium anzubieten.

Drittens orientieren sich junge Familien immer mehr auch nach anderen Gesichtspunkten. Es braucht weit mehr als eine Förderung für die Niederlassung. Das Gesamtpaket muss stimmen, und das besteht oft auch aus einer guten Vernetzung der Weiterbildung, Vereinbarkeit von Beruf und Familie, der Verfügbarkeit von Hort-/ KiTa-Plätzen, Bildungseinrichtungen und Freizeitaktivitäten.

Viertens mögen die Vorstellungen über die hausärztliche Tätigkeit auch von der Realität abweichen. Ich halte daher eine vorherige Erprobung für sinnvoll. Über Praktika oder eine Ausbildung zur Medizinischen Fachangestellten besteht die Möglichkeit, einen guten Einblick in die Tätigkeit zu bekommen.

Ich finanzierte mein Studium auch mit einem Stipendium, das sich jedoch deutlich von der Landarztquote unterschied. So erhielt ich ab dem Physikum eine dreijährige Förderung durch eine Klinik in einer unterversorgten Region und verpflichtete mich im Gegenzug, nach dem Studium auch drei Jahre Weiterbildungszeit in dieser Klinik zu absolvieren.

Das passte perfekt, denn für die Weiterbildung zur Fachärztin für Allgemeinmedizin sind mindestens zwei Jahre Klinikzeit verpflichtend. Zudem wusste ich zum damaligen Zeitpunkt bereits, dass ich nach Zwickau zurückkehre. Sollten sich die beruflichen oder familiären Pläne ändern, bietet diese Variante nach den drei Jahren Flexibilität. Dies sehe ich bei der Landarztquote nur bedingt gegeben.

Wie geht ihr in der Praxis damit um, wenn Patienten keine zeitnahen Facharzttermine bekommen?

Manches bieten wir bereits selbst an, zum Beispiel Langzeit-Blutdruckmessungen, Atemtests, Hyposensibilisierungen oder orientierende Sonographien. Der Ausbau des Leistungsspektrums ist meistens an Weiterbildungskurse, Richtzahlen und technische Voraussetzungen gebunden. Oft schicken wir die Patient*innen mit Laborergebnissen und unseren Vorbefunden zu den Fachärzten.

Aus den Ergebnissen kann man manchmal Therapieoptionen für andere Patient*innen ableiten. Zudem besteht die Möglichkeit, sich aus Fachliteratur etwas anzulesen oder auf Weiterbildungen Kontakte zu knüpfen und den Blick über den Tellerrand zu erweitern. Oft besprechen wir schwierigere Fälle jedoch in der Praxis untereinander, um verschiedene Lösungsvorschläge und Blickwinkel in Entscheidungen einfließen zu lassen. In wirklich dringenden Fällen bleibt dann leider nur der Weg über eine stationäre Abklärung.

Gibt es etwas, was du Menschen immer schon über deinen Beruf erzählen möchtest?

Auch wenn wir bei den Erwartungen nicht mit den typischen ZDF-Serien mithalten können, ist die Tätigkeit eines Allgemeinmediziners auf dem Land ein sehr schöner und herausfordernder Beruf mit vielen Facetten. Wir behandeln nicht nur Infekte und verschreiben Medikamente, sondern denken differenzialdiagnostisch in kurzer Zeit in vielen Fachrichtungen, versuchen den banalen vom gefährlichen Vorstellungsgrund zu unterscheiden, Krankheiten vorzubeugen und unsere Patient*innen in allen Lebensabschnitten zu begleiten.

Beruflich wie auch privat fällt mir in dieser Hinsicht ein Zitat von Ernst Ferstl ein: „Zeit, die wir uns nehmen, ist Zeit, die uns etwas gibt.“