Wiedersehen – Hoffnung und Realität
Vorschau Warten und Wiedersehen
Fokus
Donnerstag, 20. November 2025

Wiedersehen – Hoffnung und Realität

Der Apfelbaum voller weißer Bänder – für den Mann, der seine Familie aus dem Gefängnis gebeten hatte, ihm eine Schleife an den Ast zu knüpfen, um zu zeigen, ob er willkommen sei; es ist ein Symbol für die Vorfreude des Wiedersehens. Der barmherzige Vater, der den verlorenen Sohn erneut in die Arme schließt und wieder mit Nahrung, Kleidern und Würde ausstattet – er lässt sich von der Freude des Wiedersehens übermannen. Das Kind, das seiner Mutter, die von der Dienstreise heimkehrt, entgegenläuft und in die Arme springt; selbst der Hund, der sein Herrchen schwanzwedelnd nach der Arbeit begrüßt – alle zeigen, jeweils auf eine ganz eigene Art, wie glücklich sie sind, wieder in Beziehung zu leben.

Das Wiedersehen ist jedoch nur ein Moment einer Folge aus Abschied, Getrenntsein, Wiedersehen und schließlich dem Wieder-Zusammensein. Jede dieser Phasen erleben wir täglich in kleinen oder großen Abschieden – eine gute Gelegenheit, sie zu üben, damit auch der große Abschied und das endgültige Wiedersehen gelingen kann.

Abschied nehmen – Leben in Offenheit

Eines der bekanntesten Abschiedsrituale ist das letzte Abendmahl Jesu mit seinen Jüngern. Jesus greift dabei ein vertrautes Ritual auf – das Paschamahl –, das seine jüdischen Freunde schon oft gefeiert haben. Doch diesmal deutet er es neu auf seinen Tod hin. Damit legt er zugleich den Grundstein für die Eucharistiefeier der Kirche: ein immer wiederkehrendes Erinnern, Feiern – und auch Abschiednehmen. Auch im Alltag begegnen uns ständig kleine Abschiede: morgens beim Verlassen des Hauses, abends beim Gute-Nacht-Sagen. Oft begleiten wir sie mit kleinen Gesten: Winken, ein Kreuz auf der Stirn, ein Kuss. Es sind stille Übungen für die großen Abschiede im Leben. Wenn die Schule abgeschlossen ist, wenn das Arbeitsleben endet, wenn wir umziehen oder die Kinder aus dem Haus gehen – immer bedeutet das: Vertrautes loslassen, etwas Neues beginnt.

Diese Schritte gehen wir oft nicht allein. Wir feiern Abschiedsfeste, gestalten Übergänge bewusst. Und doch bleibt oft ein stiller Schmerz. Denn in jedem Abschied schwingt auch die Ahnung mit, dass nicht alle Beziehungen, die uns wichtig sind, bleiben werden. Der Philosoph Peter Bieri beschreibt dieses Gefühl als „Bewusstsein von der Vorläufigkeit allen Erlebens und Teilens, allen Versprechens und Hoffens“. Jeder Abschied im Leben verweist – leise, aber unübersehbar – auf den einen großen Abschied: das Sterben. Für die Hinterbliebenen ist es der Verlust eines geliebten Menschen, für die Sterbenden der Schritt ins Unbekannte – oder, im christlichen Glauben gesprochen, der Weg auf Gott hin. Unsere Erfahrung zeigt uns, dass Abschiede nicht endgültig sein müssen. Daraus wächst die Hoffnung auf ein Wiedersehen, auf neues Leben in Gottes Nähe.

Wiedersehen – Freude und Unsicherheit

„Entschuldigung, sind Sie der Gärtner? Ich suche Jesus.“ Maria von Magdala steht am leeren Grab ihres Freundes – und erkennt ihn nach dem Tod zunächst nicht. Sie trägt noch das Bild des Jesus vor dem Abschied in sich. Erst als Jesus ihren Namen sagt – „Maria“ –, erkennt sie ihn. Es ist ein Moment voller Nähe – und doch mit neuer Distanz: Jesus ist nicht mehr derselbe wie zuvor. Etwas hat sich verändert.

Wiedersehen bedeutet: Die Spannung zwischen Erinnerung und Veränderung erreicht ihren Höhepunkt. Wir treffen jemanden wieder und sind selbst nicht mehr dieselben. Zwei Menschen begegnen sich neu. Darin liegt Unsicherheit: Wird es noch so sein wie früher? Natürlich nicht. Aber können wir anknüpfen?

Und dann geschieht es: Die Stimme, der Geruch, ein Blick – etwas Vertrautes taucht auf. Das Lächeln, die Hände, die Sprache – wir erkennen: Da ist jemand, den ich kenne. Da ist Beziehung. Die Spannung löst sich. Freude breitet sich aus. Neues Vertrauen wächst – auf dem Fundament gemeinsamer Geschichte. Kann man solche Wiedersehen – nach einer Dienstreise, einem Urlaub oder einer schweren Krankheit – mit dem Wiedersehen nach dem Tod vergleichen? Die christliche Hoffnung lässt uns glauben: Ja. Wenn unser ganzes Leben, unsere Geschichte und damit unsere Beziehungen bei Gott aufgenommen sind, dann geht auch das Verbindende zwischen uns nicht verloren. Nicht umsonst betet die Kirche für die Verstorbenen – und vertraut auf die Fürsprache derer, die bei Gott sind.

Wir hoffen auf eine Beziehung, die den Tod überdauert. Zwischen Himmel und Erde, zwischen Ewigkeit und Endlichkeit – in einem Wiedersehen, das mehr ist als Erinnerung. Es ist Beziehung, die im Glauben schon jetzt beginnt.

Vorschau Umarmung
„Das ist unser L ied“ – Musik, Gerüche und Geschmäcker können ganz besondere Erinnerungen wachrufen. Diese Erinnerungen verbinden und begründen so eine tragfähige Beziehung

Wieder zusammen sein – Beziehung pflegen

Beziehungen verändern sich. So, wie wir uns verändern. Solche Momente der Veränderung erleben wir schon in unserem Alltag. Nicht selten schaue ich morgens beim Frühstück meine vierjährige Tochter an und denke: Da sitzt ein anderer Mensch als gestern. Über Nacht ist sie gewachsen, etwas hat sich verändert. Und auch ich selbst bin nicht mehr ganz derselbe wie am Vorabend. Vielleicht nur ausgeruhter.

Mit jeder Erfahrung, mit jedem Atemzug wandeln wir uns. Wer sich täglich sieht, bemerkt das kaum. Doch genau darin liegt eine Gefahr: Wir halten das Bild fest, das wir vom anderen haben. Wir nehmen einander nicht mehr wirklich wahr. Wenn wir jemanden nach längerer Zeit wiedersehen, ist das oft anders: Wir nehmen uns Zeit, hören zu, erzählen – nicht nur Fakten, sondern Erfahrungen. Wir bauen Beziehung neu auf. Und genau das brauchen wir auch im Alltag: die kleinen Wiedersehen, die uns helfen, verbunden zu bleiben. Ein kurzer liebevoller Blick, ein Gespräch am Tisch, das gemeinsame Abendgebet – solche Rituale sind wie Ankerpunkte. Sie helfen uns, Beziehung zu pflegen, auch im Unscheinbaren. Gerade darin wächst etwas Tragfähiges: Nähe, die nicht festhält, sondern Raum lässt. Vertrauen, das mitgeht, wenn das Leben weiterzieht. Hoffnung auf das nächste Wiedersehen.

Und wenn ich jemanden nicht wiedersehen will?

Was, wenn der letzte Abschied eine Erlösung war? Was, wenn da nicht nur der geliebte Mensch, sondern auch ein Peiniger, eine Quälerin gegangen ist? Erinnerungen an schlimme Erfahrungen können ebenso wieder aufflackern wie die an Glücksmomente, sie können neu traumatisieren. Muss jemand hoffen, oder vielmehr fürchten, seinen Peiniger, seine Peinigerin bei Gott wieder zu treffen? Die Wirklichkeit Gottes übersteigt unseren Verstand. Biblische Bilder können hier eine Annäherung sein: Jesus hat eine klare Perspektive für die Opfer – ihre Tränen will er trocknen, für den Peiniger „wäre es besser, wenn er mit einem Mühlstein um den Hals ins Meer geworfen würde“ (Mk 9,42). Zugleich will er Heil für alle Menschen – und verzeiht auch dem Verbrecher bei echter Reue. Zwischen diesen Polen können wir versuchen, uns die Heilung in Gottes Gegenwart vorzustellen. Doch kommen wir an Grenzen, denn die Fülle des Heils ist unserer Lebensrealität fremd, die immer voller Brüche ist. Der Apostel Paulus beschreibt es so: Jetzt schauen wir in einen Spiegel und sehen nur rätselhafte Umrisse … Jetzt ist mein Erkennen Stückwerk (1 Kor 12f.).