Wie Frieden wächst
„Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden den Menschen seines Wohlgefallens.“ So überliefert Lukas den Gesang der Engel in der Weihnachtsnacht. Und schon der Prophet Jesaja spricht vom wunderbaren Kind, das „Fürst des Friedens“ genannt wird. Aber Frieden – was ist das eigentlich? Es folgt ein Versuch, dem Geheimnis des Friedens nachzuspüren, den Gott verheißt – und den wir in unserer Welt so dringend brauchen.
Ein bisschen Frieden
Im Buch des Propheten Jesaja ist eine erste Deutung des Friedens überliefert, den der Fürst des Friedens bringen wird: „Jeder Stiefel, der dröhnend daherstampft, jeder Mantel, im Blut gewälzt, wird verbrannt, wird ein Fraß des Feuers“ (Jes 9,4). Frieden bedeutet hier die Abwesenheit von Krieg, das Schweigen der Waffen. Friedensforscher sprechen von „negativem“ Frieden: negativ, da er durch die Abwesenheit von gewalttätigen Konflikten charakterisiert wird. Doch das ist eben nur „ein bisschen“ Frieden.
Deshalb sprechen sie auch vom „positiven“ Frieden. Das bedeutet nicht nur, dass Staaten ihre Armeen in den Kasernen lassen. Dieser Frieden entsteht dort, wo Gerechtigkeit herrscht, wo Menschen sich entfalten können – ohne Angst und Einschränkungen. Martin Luther King hat es so ausgedrückt: „Wahrer Friede ist nicht die bloße Abwesenheit von Spannung; es ist die Gegenwart von Gerechtigkeit.“
Um Frieden zu erreichen, müssen Not, Unterdrückung und Ausbeutung beendet werden. So müssen wir uns fragen, ob wir tatsächlich seit 80 Jahren in Frieden leben. Nicht erst, seitdem der Angriff auf die Ukraine auch immer spürbarer nach Europa schwappt. Natürlich – auf deutschem Boden gab es keinen Krieg. Aber leben wir in Frieden, wenn wir uns als Europäer einzäunen, um uns vor anderen Menschen zu schützen?
Lass mich doch in Frieden
Auch unsere Alltagserfahrungen zeigen, dass Frieden viel mehr ist, als ohne Kriegslärm zu leben. Nicht nur Kinder streiten regelmäßig – auch wir Erwachsene leben oft genug in Konflikten, die uns den Frieden rauben. In vielen Beziehungen, in vielen Familien gibt es Spannungen, manchmal sogar Gewalt. Doch es muss gar nicht laut und handgreiflich werden: Es reicht schon der unfreundliche Nachbar, der mich auf Verfehlungen hinweist; die Arbeitskollegin, die meine Ergebnisse als ihre präsentiert; oder der Rüpel, der sich an der Kasse vordrängelt.
Kurzum: Es gibt jeden Tag genug Konflikte, die ohne Waffen ausgetragen werden – und doch verletzen. Gelingt es mir, diese Situationen friedlich zu lösen? Kann ich nachgeben, ohne mich als Verlierer zu fühlen? Kann ich Angriffe stehen lassen, ohne zurückzuschlagen?
In Frieden leben können
Kann ich im Frieden mit mir selbst leben? Diese Frage berührt etwas ganz Zentrales. Es gibt Voraussetzungen für den Frieden, die in mir selbst liegen: Kenne ich meine Gefühle, meine Wünsche, meine Ängste? Kann ich mit ihnen umgehen, oder lasse ich mich von ihnen beherrschen? Gibt es Wunden in meinem Leben, die nach wie vor schmerzen? Wo bin ich unversöhnt – mit mir, mit anderen, vielleicht auch mit Gott?
Überall dort, wo ich mit mir selbst im Unfrieden lebe, liegt der Keim für neue Konflikte mit den Menschen um mich herum. Und umgekehrt: Wer mit sich selbst versöhnt ist, kann Frieden weitergeben. Vielleicht wurde Ihnen schon eine Begegnung mit einem Menschen geschenkt, der Frieden mit sich selbst geschlossen hatte. Eine solche Begegnung ist bereichernd, tröstend und stärkend.
Ein Frieden, den die Welt nicht gibt
„Friede sei mit euch!“ – so begrüßt der Auferstandene seine Jünger, als sie sich verängstigt hinter verschlossenen Türen verstecken. Es sind die ersten Worte des Auferstandenen, und sie treffen mitten in ihre Unruhe hinein.
Dieser Frieden, den Jesus seinen Jüngern zuspricht, ist kein Zustand, der erst dann entsteht, wenn alles gut ist. Er ist auch nicht das Ergebnis einer gelungenen Konfliktlösung oder eines guten Sicherheitskonzepts. Der Frieden, den Christus schenkt, ist etwas anderes: Er ist seine Gegenwart – Gottes Nähe, die Angst verwandelt, seine Liebe, die stärker ist als das, was uns bedroht. Jesus spricht nicht über Frieden, er schenkt ihn.
So wird aus dem alltäglichen Gruß für die Jünger Jesu mehr: Er ist kein Wunsch, sondern Wirklichkeit. Er ist Zusage und Gegenwart zugleich.
Shalom – der umfassende Friede
Wenn Jesus den Friedensgruß spricht – Shalom alejchem, „Friede mit euch“ –, verwendet er einen Gruß, der im Judentum schon damals sehr vertraut war. Auch heute wird er noch verwendet, ebenso wie das arabische „Salam aleikum“.
Shalom meint weit mehr als das Ende von Streit oder Krieg. Es beschreibt den Zustand, in dem alles im richtigen Verhältnis steht: der Mensch zu sich selbst, der Mensch mit seinem Nächsten, mit der Schöpfung und mit Gott. Shalom ist Ganzheit, Gerechtigkeit und Versöhnung – das gute, geordnete Leben in Gemeinschaft.
Der Prophet Micha beschreibt diese Sehnsucht so: „Dann werden sie ihre Schwerter zu Pflugscharen umschmieden und ihre Lanzen zu Winzermessern. Sie erheben nicht mehr das Schwert, Nation gegen Nation, und sie erlernen nicht mehr den Krieg“ (Mi 4,3).
Solche Visionen sind keine Träumerei. Sie sind Ausdruck des göttlichen Willens, dass die Welt heil wird. Shalom meint nicht Ruhe im stillen Kämmerlein, sondern Gerechtigkeit auf den Straßen. Frieden ist dort, wo Menschen satt werden, wo Kinder lachen können, wo niemand ausgeschlossen wird.
Shalom ist also kein fertiger Zustand, sondern ein Weg, der immer wieder neu gegangen werden muss. Und doch: Er ist mehr als menschliches Bemühen. In allem Handeln bleibt Shalom ein Geschenk Gottes.
Der Friedensfürst
Schon Jesaja kündigt das Kommen eines Kindes an, das „Fürst des Friedens“ heißen wird (Jes 9,5). Für uns Christen erfüllt sich in Jesus von Nazareth diese Verheißung – allerdings anders, als viele das erwartet hatten. Er kommt nicht als mächtiger Herrscher, sondern als Kind in einer Krippe. Nicht mit Waffen, sondern mit leeren Händen. Nicht mit Befehlen, sondern mit Barmherzigkeit.
Das Reich des Friedensfürsten ist eine Einladung, keine Herrschaft, die mit Gewalt durchgesetzt wird. Jesus verkörpert den Shalom Gottes. In ihm wird sichtbar, was dieser Friede meint: ein Leben in Beziehung, in Gerechtigkeit und Liebe. Er lebt, was er verkündet. Er wäscht den Jüngern die Füße. Er wendet sich den Ausgestoßenen zu. Er spricht Segen über die, die hungern und dürsten nach Gerechtigkeit.
In Jesus zeigt sich: Frieden geschieht dort, wo Menschen sich berühren lassen, wo Vergebung möglich wird, wo Wunden heilen. Am Kreuz scheint dieser Frieden zu scheitern. Die Gewalt triumphiert, das Unrecht hat das letzte Wort – so scheint es. Doch gerade dort, wo Jesus nichts mehr sagen und tun kann, wird der Frieden Gottes offenbar: in der Hingabe, im Vertrauen, in der Vergebung. „Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun.“
In diesem Gebet geschieht das, was Shalom in seiner tiefsten Bedeutung meint: Versöhnung, die von Gott ausgeht und die Welt verwandelt. Seine endgültige Bestätigung erhält dieser Frieden in der Auferstehung. Nicht Tod und Gewalt haben das letzte Wort, sondern Gott – die Liebe selbst.
Der Frieden Christi ist nicht bequem. Er fordert uns heraus, Wege der Versöhnung zu suchen, wo wir lieber Recht behalten würden. Er lädt uns ein, loszulassen, wo wir festhalten wollen. Dieser Frieden ist kein Rückzug aus der Welt, sondern eine Kraft, die sie verwandelt – von innen her, durch Liebe.
Meinen Frieden gebe ich euch
Mehr als ein Geschenk
Der Frieden – nicht nur an Weihnachten – beginnt in mir selbst. Dieses Kind in der Krippe, das die Welt versöhnen will, fängt bei mir an. Wenn Gott klein und schwach wird, dann darf ich mich mit meinen Schwächen und Brüchen angenommen wissen. Ich kann mich selbst bejahen, weil Gott Ja zu mir sagt.
Wer mit sich selbst versöhnt ist, kann Frieden weitergeben – im Kleinen wie im Großen. Doch Frieden ist nicht einfach das Ergebnis menschlicher Anstrengung. Für uns Christen wächst er dort, wo Menschen sich öffnen für den Frieden, den Gott schenkt. Dieser göttliche Friede ist leise – und zugleich kraftvoll. Er verändert Menschen, und durch sie verändert er die Welt.
Wer Christus in sein Leben lässt, empfängt mehr als innere Ruhe. Er empfängt eine Aufgabe: Frieden zu leben – mit Herz, mit Händen, mit Verstand. Und so gilt uns heute wie damals das Wort Jesu: „Meinen Frieden gebe ich euch.“
Nicht als bloßer Wunsch, sondern als Verheißung und Zusage. Und als Auftrag, wie ein Sauerteig zu wirken, der die Welt von innen her verändert.