Inklusion-Einfach teilnehmen können
Vorschau Messdienerin im Rollstuhl
Fokus
Donnerstag, 17. April 2025

Einfach teilnehmen können

Vor einigen Jahren gab es in Stuttgart ein Projekt, um die Herausforderungen aufzuzeigen, denen Menschen im Rollstuhl ausgesetzt sind: Eine Initiative wandte sich an alle Fraktionen des Stuttgarter Landtages.

Die Idee: Die Abgeordneten sollten sich in einen Rollstuhl setzen und dann von einem bestimmten Punkt zu einem anderen in Stuttgart fahren – mit den Öffentlichen. Bis auf einen Abgeordneten lehnten alle das Experiment ab. Und dieser eine Abgeordnete bemerkte: Es war unmöglich, im Rollstuhl diesen Weg zu meistern, wenn er nicht sehr weite Umwege in Kauf nahm.

Das Ergebnis des Experiments ist symptomatisch. Entscheider in einer Demokratie scheuen es, sich mit Problemen auseinanderzusetzen, wenn deren Lösung zu hohen Kosten führen, aber dadurch wenig Zustimmung in ihrer Anhängerschaft erzeugt wird. Das gesamte Stuttgarter Verkehrsnetz für Rollstuhlfahrer umzurüsten, wäre sehr teuer geworden. Und es würde, so die Annahme, nur einer vergleichsweise kleinen Gruppe nutzen. Also wird das Thema lieber nicht angegangen – und eigenen Eindrücken dazu ausgewichen.

Die Menschlichkeit einer Gesellschaft erweist sich an den Schwachen

Mit dem Blick auf das vermutete Kosten-Nutzen-Verhältnis erscheint dies folgerichtig. Doch die Menschlichkeit einer Gesellschaft macht sich weniger daran fest, wie sie die Starken hofiert – sondern daran, wie sie mit den Schwachen umgeht. Eine menschliche Gesellschaft ermöglicht daher möglichst vielen ihrer Mitglieder möglichst viel Teilhabe.

Vorschau Bedienung Down Syndrom
Viel Inklusion kann auch im Beruf geleistet werden – besonders, wenn sie in normalen Betrieben arbeiten. Menschen mit Behinderung erhalten eine sinnstiftende Tätigkeit und werden sichtbar. Foto: Aktion Mensch e.V. Headerfoto: KNA

Wenn Recht auf Praxis trifft

Aber selbst dort, wo das rechtlich geregelt ist, scheitert es häufig in der Praxis:

Vor einiger Zeit machte eine junge Mutter ihrem Ärger Luft in den sozialen Medien: Der Kindergarten hatte gerade angerufen: Ihr Kind könne heute nicht kommen. Der Grund: Das Kind hatte Down-Syndrom. Es brauchte daher einen zusätzlichen Erzieher in seiner Gruppe. Diese zusätzliche Kraft war krank. Reservepersonal hatte der Kindergarten nicht zur Verfügung. Für die junge Mutter eine Organisationslast mehr. Und Anlass, sich den Frust von der Seele zu schreiben. Der Tenor ihres Beitrages: Der Kindergarten müsse alles – alles! – tun, um die Betreuung ihres Sohnes sicherzustellen.

Laut Gesetz hat die Mutter recht. Und auch ihre Empörung versteht jeder. Ihr Sohn wurde aufgrund seiner Behinderung durch die Kindergartenleitung ausgeschlossen. Ihr und ihrem Sohn entstand für den Tag ein krasser Nachteil. Und das dürfte nicht das erste oder letzte Mal gewesen sein.

Aber was sollte die Kindergartenleitung tun? Zehn anderen Kindern absagen, um eine Erzieherin für das eine Kind zur Verfügung zu stellen Personelle Reserve vorhalten, die der Kindergarten nicht bezahlt bekommt – und die nicht auf dem Arbeitsmarkt zur Verfügung steht? Die Kindergartenleitung hat sich in der Abwägung für das anscheinend geringste Übel entschieden.

So ist das Ringen um Inklusion häufig genau das: der Kampf darum, nicht das geringste Übel zu sein, das nicht beachtet und berücksichtigt wird.

Die UN-Behindertenrechtskonvention

Am 13. Dezember 2006 verabschiedete die Generalversammlung der Vereinten Nationen das „Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen“ (UN-BRK). In Deutschland trat es 2009 in Kraft. Die Konvention bekräftigt: Jeder Mensch hat unabhängig von Behinderung Anspruch auf alle Menschenrechte und Grundfreiheiten.

Aus der UN-BRK leiten sich in Deutschland zahlreiche Gesetze zur Förderung von Inklusion und Teilhabe ab.

„In der Erkenntnis, dass die Vereinten Nationen […] übereingekommen sind, dass jeder Mensch ohne Unterschied Anspruch auf alle darin aufgeführten Rechte und Freiheiten hat.“
(Präambel der UN-BRK)

Zwölf Prozent der Menschen haben eine Behinderung

Das Thema Inklusion betrifft dabei viel mehr Menschen, als es auf den ersten Blick scheint:

Schätzungsweise 650 Millionen Menschen leben weltweit mit einer Behinderung. Das sind ca. 8 Prozent der Weltbevölkerung. Schätzungsweise 98 Prozent der Kinder mit Behinderung in den Entwicklungsländern gehen nicht zur Schule. Geschätzt 30 Prozent der Straßenkinder haben eine oder mehrere Behinderungen. Nur 1–3 Prozent der Erwachsenen mit Behinderung in Entwicklungsländern können lesen und schreiben.

Entscheidend ist auch, welches Bild von Behinderung es gibt. Viele Menschen denken an Personen im Rollstuhl, an Blinde oder Menschen mit Trisomie-21. Doch nur drei Prozent der behinderten Menschen sind von Geburt an behindert, 97 Prozent der Behinderungen entstehen im Laufe des Lebens.

In Deutschland sind ca. 12 Prozent der Menschen von Behinderung betroffen, insgesamt 9,6 Millionen. Bei Menschen über 75 ist es aber jeder Dritte. Sie alle werden von internationalen und nationalen Regelungen geschützt – wenigstens theoretisch.

Denn Recht ist nicht alles. Es geht auch um die Anerkennung innerhalb der Bevölkerung. Darum muss man werben.

Fordern oder werben?

Ein Beispiel hierfür ist ein Vorwort von Jürgen Dusel, dem Beauftragten der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderungen.

Dieser erklärt:
„Wenn Sie sich die Frage stellen, was eigentlich die Grundlage einer funktionierenden Demokratie ist, dann kommen Sie schnell zu den Themen Gleichberechtigung, Chancengleichheit, umfassende Mitbestimmung und selbstbestimmte Teilhabe – in allen Lebensbereichen.“

Das ist beeindruckend – wird aber nur behauptet, nicht begründet. Es ist eine Sonntagsrede, die auf Wiederholung setzt, nicht auf Einsicht. 

Solche Rede ist umso problematischer, da viele der Maßnahmen Kosten verursachen. Betreuer müssen ebenso bezahlt werden wie Eingliederungsprogramme, Bushaltestellen und U-Bahnen müssen teuer umgebaut werden etc. Der häufig gehörte und gesprochene Satz dazu lautet: „Wir leben in einem reichen Land, deswegen …“

Das ist wohlfeil. Denn „dem Land“ gehört nichts. Das Eigentum gehört zum allergrößten Teil den Menschen, die hier leben, arbeiten, Steuern zahlen. Wer Geld für eine bestimmte Gruppe fordert, meint also: Alle anderen sollen etwas von ihrem Eigentum hergeben, damit es im Sinne der von uns vertretenen Gruppe verteilt werden kann.

Inklusion braucht Zustimmung

In einer Demokratie sei daher auch die Frage erlaubt, ob alle anderen das wollen. Jede Argumentation erweist sich in einer Demokratie darin, ob sie für die Mehrheit der Menschen attraktiv ist. Dafür braucht es Einsicht möglichst vieler für die Werte, die durch Inklusion für alle geschaffen werden.

Menschlichkeit will eingeübt werden

In der modernen Gesellschaft nimmt die Bedeutung von traditionellen Hilfsnetzwerken wie Familien ab – weil immer mehr Menschen allein leben, keine Geschwister und keine Kinder haben.

Zwar greift Solidargemeinschaft helfend ein. Aber sie kann nicht alles ersetzen. Menschlichkeit bedeutet, den anderen in seinen Bedürfnissen wahrzunehmen und sich anfragen zu lassen. Diese Anfrage ist ganz persönlich – und braucht doch einen sozialen Rahmen, der sie fördert.

Eine Gesellschaft, in der Menschlichkeit für die Schwachen eingeübt wird, stellt damit für alle Ressourcen bereit.